Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
Vom Netzwerk:
irgendwie etwas Schreiben, Lesen und Rechnen gelernt, aber natürlich
     nicht die Verdingkinder, die man ins Haus nahm, damit sie arbeiteten. Nika konnte froh sein, wenn sie im Winter Schuhe hatte
     wie die anderen Kinder des Bauern, wenngleich die Schuhe fast auseinanderfielen und mit Karton geflickt werden mussten – so
     viele Füße waren schon darin gelaufen und den Schuhen schließlich entwachsen.
    Nika hatte immer davon geträumt, in die Schule zu gehen. Dann nämlich hätte sie sicher auch etwas über Italien gelernt. Die
     Posthalterin von Mulegns, die zugleich im »Löwen« wirtete, wo die Postkutsche von Chur nach Silvaplana ihren dreißigminütigen
     Mittagshalt einlegte, schwor nämlich beim lieben Gott, die Dame und ihre Begleiterin, die damals vor Jahren den Säugling im
     Eingang des Gasthofs »Löwen« zurückgelassen hatten – niemand anderes konnte es gewesen sein   –, hätten Italienisch geredet.
    »Nika«, sagte sie, als Nika sie eines Tages heimlich ausfragte, »Nika, ich schwör dir, das war deine Mutter. Eine wunderschöne
     Dame, eine vornehme Dame, ich hab sie doch gesehen, sie ist ja ausgestiegen mit ihrer Begleiterin, während die Pferde gewechselt
     wurden. Sie hat, wie die anderen auch, eine heiße Suppe verlangt in der Gaststube. Ich sag dir, das war eine Dame aus der
     besten Gesellschaft, und Italienisch hat sie gesprochen, das habe ich ganz genau gehört. Dunkle, schwere Haare hatte sie und
     dunkle Augen, wie die Italienerinnen sie haben.«
    Nika hörte atemlos zu.
    »Und die Frau, die bei ihr war, sah aus wie eine Bedienstete, gut gekleidet, aber weniger vornehm als deine Mutter. Älter
     war sie, hatte einen Höcker   …«
    »Einen was?«, fragte Nika.
    »Na, einen Buckel, einen Höcker. Aber eine Kretine war sie nicht.«
    »Eine was?«, unterbrach Nika sie aufs Neue.
    »Nun lass mich doch ausreden. Es war nur ein kleiner Buckel. Sie war nicht blöde und missgestaltet, wie die Kretins es eben
     sind. Aber aufgefallen ist es mir doch.«
    »Wie der Lorenz, meinst du? Ist der ein Kretin?«
    »Ja, der Lorenz ist so einer. Die arme Serafina! Dass sie so einen bekommen hat, das hat ihr keiner gewünscht. Aber wolltest
     du nun was über deine Mutter hören oder nicht?«
    Die Posthalterin hatte ein Glas Milch vor Nika hingestellt und sich selbst ein Glas sauren Most eingeschenkt. Um diese Zeit
     war die Gaststube meist leer. Bis zum nächsten Posthalt war es noch eine Weile hin, und das Gesinde wusste, was es zu tun
     hatte. Die Posthalterin war ein Mensch der klaren Anweisungen. Eine Fliege surrte um den Tisch und krabbelte nervös auf dem
     Glasrand herum, bis sie in die trübe Flüssigkeit stürzte.
    »Wenn sie meine Mutter ist   …«, antwortete Nika vorsichtig.
    »Natürlich ist sie deine Mutter. Als die Postkutsche weiterfuhr, lag da dieses Bündel, und das warst du. Sie hat dich einfach
     hingelegt, als keiner es sah, und ist weitergefahren. Eingewickelt in eine Decke warst du, das Medaillon und ein Umschlag
     mit Geld lagen dabei. Ordentlich Geld.« Sie sagte es mit einem gewissen Groll, denn so eine Mitgift gab es selten, und sie
     selbst hätte dem Mädchen dafür etwas mehr Pflege angedeihen lassen, als es schlussendlich erhalten hatte. »Und auf einem Zettel
     stand, dass du Nika heißt. Aber ob du getauft bist, das weiß kein Mensch.«
    Die Posthalterin seufzte. Das war etwas gewesen damals. Und immer war alles an ihr hängen geblieben. Hundertvierzig Menschen
     lebten im Ort, und achtzig bis hundert Pferde standen manchmal in den Ställen für den Post- und Kutschenverkehr.Über den Julier ging es fünfspännig weiter, da mussten mehr Tiere ins Geschirr. Das Hotel, das Restaurant, die Poststation,
     die Kinder, Knechte und Mägde: Einer musste das alles zusammenhalten, und ihr Mann war ganz bestimmt nicht so einer, der das
     konnte. Aber sie, die ganze Zeit schwanger, sollte für alles eine Lösung wissen.
    Sie wollten eine Eisenbahnstrecke über den Albula-Pass ins Engadin bauen. Das hätte die Strecke über den Julier entlastet.
     Aber bis das irgendwann einmal zustande kam, hatte sie alles am Hals. Sie seufzte noch einmal. Das Geld, das dem Kind beigegeben
     war, hätte sie gut brauchen können, aber die Kleine war noch ein Säugling gewesen und musste eine Amme haben. Nika stupste
     sie leicht an, damit sie weitersprach. Die Posthalterin räusperte sich und sammelte ihre Gedanken:
    »Ich hätte dich behalten, aber ich hatte keine Milch mehr und gerade
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher