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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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Segantini.
     Er hob die Hand, sie schwebte einen Moment reglos in der Luft, dann ließ er sie wieder sinken. Er wirkte massig in seinem
     dunklen Anzug.
    Dumme Straniera, dachte sie, du bist eine Fremde.
    Auch in seinem Leben.
     
    Es war heiß. Nika fühlte, wie die Sonne ihr dichtes Haar bis zu den Haarwurzeln wärmte. Winzige Schweißtröpfchen bildeten
     sich am Haaransatz und im Nacken. Schattenlos führte der Pfad hinauf. Das Licht war blendend hell, scharf zeichneten sich
     die Gipfel auf der anderen Seite des Sees gegen den Himmel ab, der Roseg, der Piz Corvatsch, der Piz da la Margna   …
    Wie einsam Gian hier oben sein musste.
    Die wenigen Hütten von Grevasalvas lagen still in der Sonne, hier und da drang das Bimmeln einer Kuhglocke herüber, unwirklich
     wie in einem Traum, wenn man im Schatten eines Baumes ein Schläfchen hält. Hier oben gab es keine Bäume mehr, alles war Stein
     und Gras, ein Bach schäumte durch die Wiesen. Hahnenfuß mit seinem leuchtenden Gelb, ein Meervon Vergissmeinnicht, hellblau wie der Himmel, Enzian und Hauswurz, Bergnelken, einzelne Orchideen, rosafarben, in der Nähe
     der Hütten blauer Eisenhut.
    Die vier hellbraunen Kühe der Biancottis standen auf der Nachtweide, die Gian nahe der Hütte mit Holzpfosten und Draht eingezäunt
     hatte, also hatte er sie am Morgen nirgendwohin getrieben.
    Nika fand ihn auf der Pritsche im Innern der Hütte. Der mit Heu gefüllte Sack, der ihm als Matratze diente, war verrutscht
     und hing halb auf den Boden hinunter. Auch die verfilzte graue Wolldecke war zu Boden geglitten, und er lag in einem fiebrigen
     Schlaf, die Glieder schlotterten vor Kälte, und sein hellbraunes, in Wirbeln wachsendes Haar, das sonst dazu einlud, hineinzufahren
     und es zärtlich zu verwuscheln, klebte feucht in seiner Stirn. Nika setzte sich auf den Schemel neben seinem Lager und griff
     nach seiner heißen Hand. Jäh fuhr er aus einem unruhigen Schlaf auf, erkannte sie aber nicht gleich und schien vor ihr zu
     erschrecken. Nika strich ihm das Haar aus der Stirn, deckte ihn wieder zu und holte den Wasserkrug.
    Gian ließ sich mit geschlossenen Augen das Gesicht waschen wie ein kleines Kind, hatte erkannt, dass es Nika war, die bei
     ihm saß. Das Handtuch, das Nika nach längerem Suchen gefunden hatte und das sie ihm schließlich, zusammengefaltet und in kaltes
     Wasser getaucht, auf die Stirn legte, erwärmte sich noch unter ihren Händen, so sehr glühte sein Gesicht.
    Das Fieber war gefährlich hoch – man musste kein Arzt sein, um das zu erkennen   –, aber Nika hätte es nie geschafft, ihn allein hinunter nach Maloja zu bringen. Sie wusch zwei Lumpen aus, wickelte sie feucht
     um seine Waden, um die Hitze abzuziehen, und flößte ihm Wasser ein. Seinen wirren Sätzen entnahm sie, dass er geträumt hatte
     und Traum und Wirklichkeit durcheinanderwarf. Er habe Segantini gesehen,murmelte er, und sie, Nika, und er schien verzweifelt zu sein über das, was er gesehen hatte, aber seine Worte verwirrten
     sich wieder zu einem unverständlichen Faseln.
    Nika weinte, weil sie sich und ihm nicht zu helfen wusste. Dann, seine Hand in ihrer, schlummerte er ein, bekam ein weiches,
     zärtliches Gesicht, und seine leicht geöffneten Lippen zitterten, wenn er mit einem seufzenden Geräusch ausatmete. Nika weinte
     heftiger, weil sie ihn noch nie so erschöpft und verwirrt gesehen hatte und weil sie ihn so sehr mochte. In diesem Moment
     hatte sie das Empfinden, dass Gian ein Stück Heimat war, der zerbrechlich wirkende, kranke Gian, und dass es sich allein schon
     dafür gelohnt hatte, den Ort zu verlassen, an dem sie aufgewachsen war.
    Sie drehte sich erschrocken um, als sich mit einem knarrenden, schabenden Geräusch die Holztür der Hütte öffnete und Luca
     und Aldo im Raum standen. Sie erhob sich, gewöhnt daran, anderen Platz zu machen und unsichtbar zu werden, damit die beiden
     an Gians Pritsche treten konnten.
    Sie machten sich also tatsächlich Sorgen, auch wenn es vielleicht nur Benedettas beharrlichem Drängen zu verdanken war, dass
     sie sich hierher aufgemacht hatten. Was immer sie voneinander dachten und hielten, sie waren eine Familie, jeder war auf seine
     Weise Teil davon und verantwortlich für die anderen.
    Leise verließ Nika die Hütte und setzte sich auf die Bank davor. Die beiden Männer würden Gian hinunterbringen. Kein guter
     Tag. Man gehört zu einer Familie oder man gehört nicht dazu.
     
    »Er hat den Alpenstich«, sagte Benedetta,

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