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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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vorgeschlagen.
     Sie, Andrina, sei ein nettes Ding, hatteMs. Simpson gesagt, und habe eine Ortskenntnis, die ihrer eigenen Dienerschaft abging. Sie solle doch fragen, ob sie nicht
     für diesen einen Tag abkömmlich sei. Aber die Gouvernante, Signora Capadrutt, hatte nur ihre kaum sichtbaren hellblonden Augenbrauen
     hochgezogen und sie scharf angesehen.
    »Und wenn es dein freier Tag wäre, Andrina«, hatte sie endlich gesagt, »selbst dann würde ich es selbstverständlich verbieten.
     Merke es dir für alle Zeit: Das Hotelpersonal hat nicht mit dem Dienstpersonal der Gäste zu sprechen und schon gar nicht dieses
     auf Ausflüge zu begleiten. Ich dachte, das Reglement sei dir bekannt. Und offensichtlich werde ich auch Ms. Simpson diesbezüglich
     aufklären müssen.«
    Dass Signore Robustelli die Verhaltensvorschriften für das Personal nicht für sie ändern würde, so gut sie ihm auch gefiel,
     war Andrina klar. Sie durfte eben kein Zimmermädchen bleiben, wenn sie sich nicht nur herumkommandieren lassen wollte in diesem
     Hotel, das ihr wie das himmlische Jerusalem erschienen war. Aber wer weiß, vielleicht war es dort auch nicht viel anders.
     Jedenfalls schien es ihr angeraten, sich auf das Diesseits zu konzentrieren und sich lieber auf ihren Verstand zu verlassen
     als auf die göttliche Fügung.

Alpenstich
    Gian war nicht in der Kirche. Nika wartete vergebens auf ihn, und auch Segantini ließ sich nicht blicken. Dass Gian nicht
     da war, beunruhigte sie, dass Segantini nicht kam, überraschte niemanden. Er ging nicht zur Kirche, obwohl er mit dem protestantischen
     Pfarrer Camille Hoffmann befreundet war.
    Nika war mit ihren Gedanken nicht bei der Predigt. Die Gerechtigkeit Gottes verstand sie so wenig wie seine Gnade, und sie
     nahm sich stattdessen vor, am Mittag gleich nach Grevasalvas hinaufzugehen, um nach Gian zu sehen.
     
    »Was wohl mit dem Gian los ist?« Benedetta machte sich Sorgen, die ihre Familie nicht teilte. Aldo stocherte in den Zähnen
     – er benutzte dazu die Spitze von dünnen Zweigstückchen, die er draußen vor dem Haus abriss und ihrer Blättchen entledigte   –, schob den schwarzen Hut ein Stück aus der Stirn, hielt ihr seinen Teller hin, weil er etwas mehr von dem Kaninchenragout
     wollte, das so durchgekocht war, dass die Fleischfasern einem tatsächlich in den Zähnen hängen blieben, und sagte: »Er wird
     keine Lust auf die Kirche gehabt haben, und wenn man da oben ist, hat man immer eine Ausrede. Die Kühe reißen eben manchmal
     aus. Er wird schon runterkommen, wenn er Sehnsucht nach uns hat.«
    Andrina und Luca lachten.
    »Gian ist nun mal so, immer anders als die andern, lass ihn. Er kocht sein eigenes Süppchen, und ihm ist wohl dabei«, doppelte
     Luca nach. »Übrigens, ich hab euch was zu sagen.Gian hütet die Kühe und ist zu wenig mehr nütze, aber ich will was verdienen und nicht auf ewig hier festsitzen. Signore Robustelli
     vom Hotel hat schon Andrina eine Stelle verschafft, und jetzt hilft er mir.«
    Andrina lächelte stolz.
    Das ganze Dorf wusste, dass Signore Robustelli sich leidenschaftlich für den Eisenbahnbau interessierte und alles darüber
     wusste, aber sie, Andrina, hatte sich ein Herz gefasst und ihn gefragt, ob er vielleicht bereit wäre, ihren Bruder zu empfangen,
     der sich als Arbeiter bei der Bahn verdingen wolle und froh um seinen, Signore Robustellis, ganz persönlichen Rat wäre. Daraufhin
     hatte Achille Robustelli geantwortet: »Ist gut, Andrina, schick ihn zu mir. Ich will sehen, was ich tun kann.«
    Sie sah Luca an und nickte ihm aufmunternd zu.
    »Jedenfalls«, nahm Luca den Faden wieder auf, »bauen sie gerade die Strecke Reichenau   – Thusis, und mit Signore Robustellis Vermittlung werde ich wohl eine Stelle als Bauarbeiter bei der Eisenbahngesellschaft
     bekommen. Die Arbeit ist schwer, Schwächlinge können sie nicht brauchen, aber«, er zeigte den anderen seine Muskeln, »mit
     mir haben sie den Richtigen.«
    Sein Vater lächelte zufrieden und so breit, dass der Blick unwillkürlich auf die Zahnlücken im hinteren Teil seines Mundes
     fiel. Ja, das war sein Sohn! Nur Benedetta machte ihr übliches Gesicht, das jedem bedeutete, dass das, was gut anfing, meist
     schlecht endete. Alle sahen sie erstaunt an, als sie nun, ganz entgegen ihrer Gewohnheit, nicht nur ihr Gesicht machte, sondern
     sagte: »Dann pass nur auf, dass deine Muskeln nicht größer sind als dein Hirn. Die Arbeit ist nicht nur schwer, es verunglücken
     auch

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