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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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entglitt, und betrachtete sie, während die
     Fingerspitzen ihrer Linken scheu über seine Finger strichen.
    »Ich   … will   … schreiben   … lernen!«, sagte Nika plötzlich stockend, ohne ihn anzusehen. Dann: »Ich will zeichnen lernen!«
    Segantini hob ihr Kinn mit dem Finger in die Höhe, sodass sie ihn anschauen musste. Er sah ihr aufmerksam ins Gesicht. Sagte
     nichts. Nickte.
     
    Nika streichelte gedankenverloren ihren Rock, als wäre es seine Hand, fuhr durch ihr Haar mit seinen Fingern, ließ ihre Zunge
     über ihre Lippen gleiten, als spüre sie seine Lippen. Erschrak bei der Vorstellung, wie sich sein Bart auf ihrer Haut anfühlen
     würde.
    Er hatte ihr Heft aufgeschlagen, durchgeblättert, ihre Zeichnungen angesehen, die Lippen leicht geschürzt, seinen dunklen,
     durchdringenden Blick auf sie gerichtet und gesagt: »Das hast du gut gemacht. Ich nehme das Heft mit.«
    Sie hatte nicht zu widersprechen gewagt, obwohl sie um diesen einzigen Schatz, den sie neben dem Medaillon besaß, bangte.
    Sie konnte nicht schlafen. Nicht heute. Sie hatte die Laterne schon vor einer ganzen Weile gelöscht und starrte in das Dunkel.
     Vermisste die Wärme der kleinen braunen Kühe, die jetzt allein oben in Grevasalvas standen. Sie wickelte sich in ihren Wollschal,
     trat vor die Tür und sah zum Himmel auf. Die Sterne funkelten über ihr, die Milchstraße zog eine schräge Spur über das Firmament,
     als sei einem himmlischen Gian der Milcheimer entglitten. Die Sterne waren sehr weit oben, und es ging eine leichte, kaum
     merkliche Brise. Es war, als ob die Nacht leise atmete.
    Nika breitete die Arme aus, als wolle sie die Nacht umarmen. Es lohnte sich wieder zu reden, weil ein Ohr da war, das hörte.
     
    Eines Tages, vor Jahren, hatte Nika aufgehört zu sprechen, weil es keinen Unterschied machte, ob sie redete oder schwieg.
     Sie war mit der gleichen Milch und der gleichen Sprache aufgewachsen wie die anderen Kinder in Mulegns, und doch verstanden
     sie die anderen so wenig, wie Nika sie verstand. Sie wusste nicht einmal, ob es jemandem auffiel, dass sie plötzlich nichts
     mehr sagte.
    Der Bauer hatte ihr nicht grundsätzlich verboten, mit den Leuten im Dorf zu sprechen. Doch dann war die Geschichte mit der
     Höhle passiert.
    Die älteren Söhne des Bauern hatten ihr einen Apfel versprochen, wenn sie mit ihnen käme. Es war Spätsommer, der Bauer nicht
     zu Hause, sonst hätten sie sich nicht so einfach vom Hof stehlen können. Ein paar andere Kinder aus dem Dorf waren auch dabei.
    Nika hatte schlimme Ahnungen. Man bekam nicht einfach einen Apfel geschenkt. Am heißesten durchfuhr sie der Gedanke, die Jungen
     könnten das vergrabene Medaillon entdeckt haben oder dass es aus der Truhe verschwunden war. Sie musste mitgehen, denn das
     war es, was sie klären musste, unbedingt.
    »Na komm schon mit, du Feigling!«, rief Hans, der Älteste, und hielt ihr den Apfel hin. Reto schüttelte kaum merklich den
     Kopf. Vielleicht hatte er mitbekommen, was seine älteren Brüder planten, obwohl sie ihn als den Kleinsten meist ausschlossen,
     wenn sie ihre Späße ausheckten. Oft war er selbst das Ziel grober Streiche, an denen sich nicht selten sogar die alten Knechte
     beteiligten, die das Schicksal unbarmherzig und roh gemacht hatte.
    Schon hatten die Großen Nika eingekreist wie eine Hundemeute und trieben sie johlend zum Rand des Dorfes und weiter. Ab und
     zu hielt Hans den Apfel triumphierend in die Höhe, um ihn dann wieder, unter dem Gelächter der anderen, in seinem Hosensack
     verschwinden zu lassen. Es waren nicht nur Jungen, auch Maria und Elsa waren dabei. Das ließ Nika hoffen, dass der Hans sich
     nicht über sie hermachen würde, wie er ihr immer androhte.
    Immer beklommener wurde Nika zumute, als sie erkannte, wohin sie getrieben wurde. Nicht weit vom Dorf, aber weit ab von der
     Straße gab es eine gut verborgene Höhle, die denJugendlichen als Treffpunkt diente und in der sie versteckten, was sie zu Hause nicht zeigen oder abgeben wollten.
    Dorthin brachten sie Nika. Sie begann jetzt doch vor Angst zu zittern und sagte, während ihr fast die Zähne aufeinanderschlugen,
     so fest sie es nur herausbrachte: »Lasst mich gehen. Ich muss arbeiten.«
    Hans feixte. »Keine Angst, die Elsa gefällt mir besser als du. Ich werd dich schon nicht küssen.«
    Die Elsa lachte laut auf und nahm dem Hans den Apfel aus dem Hosensack, nicht ohne ihm mit der Hand am Bein entlangzustreichen
     und ihn dabei anzulächeln.

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