Bildnis eines Mädchens
viele dabei. Fast zweihundert sind beim Bau des Gotthardtunnels umgekommen.«
»Aber das ist schon über zehn Jahre her«, warf Aldo ein. »Und außerdem war das der Tunnel«, ergänzte Andrina, dieihre Vermittlungsleistung nur ungern wegen Benedettas ewigen Einwänden geschmälert sehen wollte.
»Das sind Flausen, die ihm dein Robustelli in den Kopf gesetzt hat«, erwiderte Benedetta heftig. »Ihr habt den Luca darauf
gebracht!«
Andrina sprang hitzig vom Tisch auf.
»Was sagst du? Nur weil Signore Robustelli Luca auf meine Bitte hin seine Hilfe angeboten hat? Siehst du denn gar nicht, dass
Luca hier nicht versauern will in diesem Kaff, wo der Schnee im Winter alles unter sich erstickt? Hier vergnügen sich im Sommer
die Reichen, verprassen ihr Geld mit vollen Händen, und wir haben nichts davon! Rein gar nichts! Oder wie weit hast du es
gebracht, trotz deiner Schufterei? Sieh dich doch an in deinem immer gleichen schwarzen Rock. Aber du hast ja nicht einmal
einen Spiegel. Und sieh doch auf den Napf vor dir, mit dem mageren Kaninchen drin. Weißt du, was die Gäste drüben im Hotel
essen? Dinge, von denen du im ganzen Leben noch nichts gehört hast.«
Benedetta stand auf, hob die Hand und gab ihrer Tochter eine Ohrfeige.
»Setzt euch beide hin«, sagte Aldo laut, »und seid beide still. Ich bin stolz, wenn Luca an der Zukunft dieses Landes mitbaut.
Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
Andrina verzog das Gesicht, schwieg aber. Nur Benedetta ließ sich dieses Mal nicht das Wort verbieten.
»Zukunft, Zukunft. Er wird an der Zukunft der anderen bauen, nicht an seiner. Sein Leben wird so jämmerlich bleiben, wie es
ist. Jämmerlicher wird es werden. Verheizt werden die Arbeiter. Die werden nie mit der Bahn fahren, die sie bauen.«
»Ihr könnt reden, so viel ihr wollt!«, schrie Luca. »Ich mache doch, was ich will. Den Arbeitern gehört die Zukunft, der Industrie!
Nicht den Bauern. In Italien streiken die Arbeiter underkämpfen sich ihr Recht. Aber hier«, er fegte seinen Löffel vom Tisch, »werden die Kinder noch lange barfuß gehen und hungrig
von den Damen und Herren, die sich auf dem Maultier die Berge hinauftragen lassen, ein paar Pfennige für ihre Alpenrosen erbetteln.«
»Dann mach, was du willst«, sagte Benedetta knapp. »Und jetzt muss jemand nach Grevasalvas hinauf, zu Gian.«
Nika machte ein Zeichen, dass sie gehen würde, und Benedetta füllte die Blechdose, die Aldo sonst mit zur Arbeit nahm, mit
Kaninchen und Polenta.
Nika hätte auch einen anderen Weg wählen können, aber sie wählte diesen. Er führte an Segantinis Haus vorbei hinauf zum Belvedere,
aber man konnte auch vom Chalet Kuoni her nach Grevasalvas aufsteigen. Die Behaglichkeit, die das große Holzhaus ausstrahlte,
gab Nika einen Stich. Segantini musste sich wohl fühlen hier, im Kreis seiner Familie. Es hieß, er besitze bemaltes Porzellangeschirr
und silbernes Besteck, in welches das Monogramm »GS« eingraviert war. Wahrscheinlich saßen sie jetzt noch beim Essen, er,
seine Frau, die vier Kinder, und wenn er sie jetzt nahe am Fenster vorbeigehen sähe, würde er mit keiner Regung verraten,
dass er sie im Hotelpark aufgesucht hatte. Warum also ging sie ihm nicht aus dem Weg? Was wollte er von ihr? Er hatte sie
aus der Wäscherei geholt, weil er ein Modell brauchte für ein Bild, das sie nichts anging. Wo war der Unterschied zum Bauern,
der sie brauchte, damit er mähen und heuen konnte?
Die Tür des Hauses öffnete sich mit Schwung, lachend kamen drei Jungen heraus, Gottardo, Alberto, Mario. Giuseppina hatte
ihr die Namen der Reihe nach aufgezählt, und langsam kannte Nika die Leute, die in Maloja wohnten, es waren nicht viele. Sie
wartete auf Bianca, Segantinis Jüngste, aber sie kam nicht. Nika hätte sich ohrfeigen können. Natürlich hattesie gehofft, ihm über den Weg zu laufen, aber statt seiner sah sie alles, was er ihr voraushatte: eine Familie, ein Haus,
Heimat.
Sie tastete nach dem Medaillon, das gut unter ihrer Bluse verborgen war. Es erinnerte sie daran, dass sie unterwegs war, unterwegs
zu dem Ort, der ihr Ort war, ihre Heimat, ihre Familie. Dies war erst ein Teil des Weges, eines langen Weges. Aber es war
ein Anfang.
Die lauwarme Blechdose mit Gians Sonntagsessen in der Hand, ging sie schnell weiter. Die Jungen riefen einen Gruß herüber.
Nika wandte sich nicht um, weil sie Tränen in den Augen hatte. Dann tat sie es doch. In der Tür seines Hauses stand
Weitere Kostenlose Bücher