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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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es daher mehrere Standorte, und erst zum Schluss
     wählte er einen davon aus, um in einem letzten Durchgang das Licht zu harmonisieren, das dem Bild die endgültige Stimmung
     verleihen sollte.
    Meist arbeitete er an mehreren Bildern gleichzeitig und ging, ein geübter und ausdauernder Bergwanderer, über weite Strecken
     von Platz zu Platz, um die verschiedenen Lichtverhältnisse des Tages so zu nutzen, wie er sie brauchte.
    »Lies mir vor, Baba«, sagte er oft. Und während Segantini zuhörte, eingelullt in den murmelnden Fluss von Babas Stimme, setzte
     er die Farbe fast wie in Trance, jedenfalls ohne nachzudenken, auf die Leinwand.
    Zum Mittagessen ging Segantini nach Hause, und immer häufiger schlug er den Weg am Hotel vorbei ein. Er suchte den Park mit
     den Augen ab. Das rötliche Blond war weithin zu sehen, und gerade der Überfluss dieses Haares war es, was ihn halb wahnsinnig
     machte: ein Teppich, den er ausbreiten oder, besser noch, in den er sich wickeln wollte und dessen Duft – er wusste es schon
     jetzt – halb Blume, halb Tier war. Aber wenn er Nika entdeckte, verbot er sich, zu ihr hinzugehen, grüßte stattdessen von
     Weitem.
    Nur abends, wenn die Arbeit getan war, richtete er ein paar Worte an sie – das hatte er sich erlaubt. Sie schien dann schon
     nach ihm Ausschau zu halten.
    Wenn er sich ihr näherte, verrieten ihre Augen zwar nichts, aber das Blut stieg ihr in das schmale Gesicht. Sie hatte einezarte, helle Haut, das sah er, obwohl sie von der Sonne gebräunt war. Wie Bice. Nein, ganz anders als Bice. Das war es ja.
     Wenn sie Bice gliche, müsste seine Fantasie ihn jetzt nicht martern, denn Bice gab ihm alles, was eine Bice zu geben hatte.
     Bei Bice bekam er alles, was er brauchte. Diese hier hatte alles, was er nicht brauchen konnte. Sie machte ihn unruhig, sie
     störte seine Arbeit, der Bice sich so völlig unterordnete, und das schwächte ihn auf empfindliche Weise. Denn er war seine
     Arbeit. Seine Arbeit hielt ihn zusammen, war das Gerüst, in das sein Leben eingebettet war. Er hatte sich eine Welt gezimmert,
     in der das Dunkle und die Angst nicht übermächtig werden konnten. Dank seiner Arbeit, seinem nicht versiegenden Streben, dank
     der Natur und der Helligkeit hier oben konnte er leben und sogar lieben. Das Mädchen gehörte zu der anderen Seite des Lebens,
     die er auszublenden suchte.
    Trotzdem trieb es ihn zu ihr, als müsse er seinen Schatten suchen, weil alles, was er lebte, nur die eine Seite, die mühsam
     erkämpfte Lichtseite war. Doch im Innern wusste er, dass es auch die andere, die dunkle Seite gab, so wie zu jedem Leben auch
     ein Tod gehört.
    ***
    Nika hatte ein Problem. Wie konnte sie ausdrücken, dass sie schreiben und zeichnen lernen wollte, ohne zu sprechen? Sie zeigte
     Gaetano ihr Heft, deutete auf die Pflanzen, die sie gezeichnet hatte, und wies mit dem Finger auf den leeren Platz daneben.
     Aber Gaetano konnte noch weniger schreiben als sie.
    »Zeig dein Heft dem Signore Segantini, dem du so unentbehrlich geworden bist«, sagte er, um von diesem Mangel abzulenken.
     »Er stiehlt zwar Arbeitszeit, wenn er dich besucht, aber ich darf mich eh nicht beklagen. Der Signore ist befreundetmit dem Hoteldirektor. Ja, so ist die Welt«, murmelte er ohne wirkliche Empörung wie einer, der sich längst damit abgefunden
     hat. Und aufmunternd, denn er mochte Nika, setzte er hinzu: »Na los, zeig ihm das Heft. Da hinten kommt er schon. Man kann
     ja bald die Uhr nach ihm stellen.«
     
    »Ich möchte, dass du sprichst«, sagte Segantini.
    Sie standen am Ufer des Sees und sahen auf den klaren Grund hinab. Steine, Wurzelstücke, Seegras, das unmerklich mit den winzigen
     Bewegungen des Wassers zitterte. Segantini bückte sich, hob einen Kiesel auf und schleuderte ihn in flachem Winkel über die
     Wasseroberfläche. Der Stein berührte den Wasserspiegel, erzeugte eine ringförmig sich ausbreitende Welle, die das Wasser trübte,
     und hüpfte dann weiter, einmal, zweimal, bis er versank.
    Segantini richtete sich wieder auf und sah dem Mädchen ins Gesicht. Streckte die Hand aus und berührte erst ihr Haar, das
     nur locker und nachlässig im Nacken zu einem Knoten geschlungen war, griff dann nach einer einzelnen Strähne und wickelte
     sie um seinen Finger.
    Seine erste Berührung galt ihrem Haar, ihre seiner Hand. Die Hand war breit, fleischig, fast ungeschlacht, aber auch bedachtsam
     und vorsichtig. Nika ergriff sie, zog sie herunter, sodass ihre Haarsträhne ihm

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