Bildnis eines Mädchens
Nützlichkeit eines Arztes glaubte.
Luca war fort. Viele junge Männer vom Land zogen in die Stadt, um in der Fabrik zu arbeiten, oder gingen in den Bahnbau.Das war der Zug der Zeit. Robustelli betrachtete diese Entwicklung nüchtern. Es gab kein Zurück, auch nicht im Engadin, wo
der Fremdenverkehr zur größten Einnahmequelle geworden war. Nicht alle Einheimischen profitierten davon, die Unterschiede
zwischen Arm und Reich waren selbst unter den Einheimischen riesig, ganz zu schweigen von dem Gefälle zwischen den Urlaubsgästen
und den Talbewohnern. Doch die einen gaben den anderen Arbeit, selbst wenn sie nicht bereit waren, ihren Wohlstand mit den
Ärmeren zu teilen.
Achille kannte die Menschen inzwischen besser, als ihm lieb war. Er war ein genauer Beobachter, und was er da sah, machte
ihn zwar nicht zum Menschenfeind, aber er steckte seine idealistischen Vorstellungen nicht mehr allzu hoch. Er war zu bürgerlich,
um klassenkämpferischen Parolen etwas abzugewinnen, aber er sah die Verhältnisse durchaus realistisch, und das hatte zur Folge,
dass er Menschen mit Geld niemals wegen ihres Geldes bewunderte.
Zum anderen hatte er viel darüber nachgedacht, was Segantini ihm über die fremde junge Frau erzählt hatte. Auch über Segantini
selbst war er ins Grübeln gekommen. Wie geliebt und behütet er, Achille, doch aufgewachsen war! Nicht, dass die Zuneigung
seiner Mutter immer problemlos gewesen wäre – manchmal hatte er das Gefühl gehabt, von ihrer Liebe geradezu erstickt zu werden.
Aber dieselbe Liebe hatte, vor allem als sein Vater noch lebte, ihn genährt und stark genug gemacht, sich selbst mit freundlichen,
ja anerkennenden Augen zu sehen und sich gegen unberechtigte Forderungen oder Angriffe ganz selbstverständlich zur Wehr zu
setzen.
Aus Segantinis Erzählung über die Herkunft des Mädchens war ihm zum ersten Mal bewusst geworden, dass nicht alle Menschen
in der Geborgenheit aufwuchsen, die ihm nur natürlich schien, weil er sie selbst genossen hatte. Er fragte sich, wie sich
ein Mensch entwickelt, der zu Beginn seinesLebens keine Liebe erfährt. Gedankenverloren drehte er an seinem Ring, aber er konnte das Gefühl der Verlassenheit, das die
Folge davon sein musste, nicht richtig nachfühlen, wenn er ehrlich war. Was er hingegen begriff, war, dass Segantini, anders
als er, sich offensichtlich in Nikas Geschichte sehr gut einfühlen konnte, und aus keinem anderen Grund, als weil er ganz
ähnliche Erfahrungen gemacht haben musste.
Es war nicht zu übersehen, dass die beiden sich aufgrund einer unausgesprochenen Verbundenheit, die die gemeinsame Erfahrung
schuf, wie magisch anzogen. Seit die junge Frau im Garten arbeitete, kam Segantini viel häufiger vorbei als früher und suchte
ihre Nähe. Segantini hatte sich in Nika verliebt, daran bestand für Robustelli kein Zweifel. Aber wo sollte das hinführen
in einem Dorf wie Maloja, wo jeder jeden kannte und alles irgendwann bemerkt wurde? Segantini war eine geachtete Person und
hatte Familie. Und der Gedanke, dass der Maler die junge Frau einerseits in bester und edelster Absicht förderte und sie doch
gerade dadurch in neue Schwierigkeiten brachte und ihr schadete, beelendete Robustelli. Denn ihr, nicht Segantini würde man
eine Beziehung verübeln. Sie war jung, mittellos und eine Fremde. Und nicht zuletzt war sie eine Frau.
Sind es nicht die schlechten Frauen, die die Männer verführen?
Achille war es unbehaglich zumute. Nicht, weil er engen Moralvorstellungen anhing, auch nicht, weil ihm diese Menschen so
nahestanden. Es quälte ihn vielmehr, dass er etwas beobachtete, wofür es keine praktische Lösung gab. Denn das war es, was
ihn beruflich so erfolgreich und zufrieden machte: dass er für die meisten Probleme Lösungen fand. Was sich aber hier anbahnte,
entzog sich seinem pragmatischen Geist. Das dunkle, unübersichtliche Gebiet menschlicher Gefühle und Leidenschaften war ihm
unheimlich. Achille Robustelliliebte die Vernunft, die Klarheit und die Ordnung, und deshalb unterbrach er seine Gedanken und widmete sich lieber der Erledigung
der anliegenden Korrespondenz.
***
Einen Bergführer zu finden, war nicht weiter schwierig. Die Einheimischen kannten sich alle in der Gegend aus, viele priesen
sich als Führer an, leicht zu erkennen an dem um den Leib geschlungenen Gletscherseil aus Manilahanf. Sie saßen auf den Bänken
vor den großen Hotels, den grauen Filzhut auf dem Kopf,
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