Bildnis eines Mädchens
Stirn
fiel, die Wimpern, die seine Augen leicht verschatteten, die Hand, die ihre hielt, seine unbekümmerte Stimme. Sie musste an
ihre Eltern, an Betsy denken, aber welche Macht hatten sie denn noch über sie, sie war doch nun wirklich erwachsen. James
hatte das erkannt, er nahm sie für voll, er überließ ihr die Entscheidung, weil er begriff, dass sie fähig war, eigene Entscheidungen
zu treffen.
Die elektrische Straßenbahn hielt mit einem Ruck an.
»Kommen Sie, wir müssen aussteigen«, sagte James und half ihr aus dem Wagen. Wie hübsch sie war in ihrer Verwirrung, rührend
in ihrer Naivität. Ihren inneren Kampf mit der bürgerlichen Tugend konnte ein Blinder auf ihrem unglücklichen Gesicht ablesen.
»Schauen Sie nicht so unglücklich, Mathilde«, flüsterte er und drückte ihren Arm, »sonst denkt man noch, ich führe Sie zum
Schafott. Dabei will ich doch nur mit Ihnen zu Mittag essen.«
Er war um die paar Jahre älter, die alles entschieden, für ihn natürlich, und er wusste es.
Mathilde lächelte ihm dankbar zu. Wie sie sich anstellte! Es ging ja wirklich nur um ein Mittagessen zu zweit, und dann würde
sie einen Wagen nehmen und zu Kate eilen und sich entschuldigen, dass sie aufgehalten worden war durch die Untersuchung von
Dr. Bernhard. Sie würden auf den Golfplatz gehen, James würde dazustoßen und fragen, wie es den Damen gehe …
»Hier haben wir die Pension Veraguth«, unterbrach James ihre Gedanken und zeigte auf das breite alte Engadiner Haus. »Und
wieder haben wir verschiedene Möglichkeiten, falls Sie nicht doch zum Kulm Hotel spazieren möchten. Es gibt eine schattige
Terrasse, auf der à la carte serviert wird, es gibt imersten Stock eine Stüva, eine Arvenstube, in der wir wahrscheinlich ziemlich ungestört essen können, weil die meisten Pensionsgäste
über Mittag außer Haus sind. Wir können aber auch«, er ließ ihren Arm los, um anzudeuten, wie frei sie in ihrer Entscheidung
war, »wie zwei Abenteurer in mein Zimmer schleichen. Der Champagner steht in der mit kaltem Wasser gefüllten Waschschüssel,
sie werden lachen, wenn Sie meine Behelfskonstruktion sehen …«
Mathilde nickte unentschlossen.
James deutete das als Einverständnis mit der letztgenannten Möglichkeit. Er betrat den Gang der Pension, sah sich um und zog
sie die Treppe hinauf.
Und schon stand Mathilde in seinem Zimmer, das von einem rustikalen Doppelbett fast vollständig ausgefüllt wurde. Unwillkürlich
wich sie einen Schritt zurück und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür.
»Leider bewohne ich keine Suite wie Sie«, bemerkte James, »aber schauen Sie einfach nicht auf das Bett, sondern auf die Aussicht,
unser Picknick … und vielleicht auf mich?«
Fast tat sie ihm leid, wie sie da stand. Ihre Unterlippe zitterte, als würde sie gleich zu weinen beginnen, aber dann sagte
sie nur: »Ich habe meinen Sonnenschirm in der Straßenbahn vergessen.«
Daraufhin verfiel sie in Schweigen.
James holte Brot, kleine Pasteten, Käse aus einem Korb, breitete ein weißes Handtuch über das Tischchen beim Fenster, rückte
den Sessel für sie daneben, bat sie, sich doch hinzusetzen, zog aus einer Schublade der Kommode zwei Teller und zwei Champagnergläser
hervor und öffnete, ohne den Korken knallen zu lassen, die Champagnerflasche.
Wenn sie erst einmal ein Glas getrunken hatte, würde sie wohl aus ihrer Starre erwachen, mein Gott, er musste wirklich ein
Dornröschen wachküssen. Dabei war sie in Anwesenheitihrer Tante gar nicht so schüchtern gewesen. Beinahe bedauerte James, dass er sie nicht einfach unten auf die Terrasse gesetzt
und bald wieder zu Kate ins Hotel zurückgebracht hatte.
Aber nun waren sie einmal hier, sie hielt das Champagnerglas schon in der Hand, hatte den Strohhut abgelegt und lächelte ihn
schüchtern an. Ihre Augen glänzten. Kates Augen glänzten nicht, wenn sie ihn ansah, dachte er plötzlich, sie waren spöttisch,
funkelnd, herausfordernd, aber glänzen taten sie nicht. Merkwürdig, dachte er, was glänzende Augen für Gefühle auslösen können.
Dabei war Mathilde doch eigentlich nur ein nettes junges Mädchen, nicht mehr und nicht weniger. Nichts Weltbewegendes.
»Möchten Sie zum Essen nicht Ihre Handschuhe ausziehen?«, fragte er zu seiner eigenen Überraschung fast liebevoll und mit
nur leichtem Spott in der Stimme.
Sie blieb stumm, wehrte sich aber nicht, als er ihr das Glas aus der Hand nahm und sagte: »Warten
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