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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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nach Maloja zum Meister zu pilgern. Und es heißt,
     dass er die Leute großzügig empfängt und bewirtet.«
    »Nun«, antwortete Betsy, »dann werden wir es so machen, wie es Mode ist. Aber Gottseidank brauchen wir für diese Pilgerfahrt
     keinen Bergführer«, flüsterte sie Edward zu, denn sie war von dem schönen Caviezel irgendwie enttäuscht.
    ***
    Ausgerechnet heute hatte Mathilde einen Termin bei Dr.   Bernhard. Heute, wo sie James sehen konnte, ohne ihre Tante, die stattdessen in den Bergen herumkraxelte. Dabei hielt die
     Kur sie schon genug auf, der ganze Morgen würde darüber hingehen.
    »Liebes Fräulein Schobinger, ihre Lunge gefällt mir nicht«, sagte Dr.   Bernhard. »Sie müssen die Kur nicht unterbrechen, aber ich möchte Sie bald noch einmal für eine gründliche Untersuchung sehen.«
    »Bis auf den Husten geht es mir doch wunderbar!«, rief Mathilde aus. »Ich habe mich nur erkältet! Am Morgen ist es immer noch
     so frisch, und tagsüber brennt die Sonne   …«
    »Aber Sie haben erhöhte Temperatur. Wenn Sie sich im Spiegel anschauen, sehen Sie, wie gerötet Ihre Wangen sind.«Dr.   Bernhard erwähnte nicht, dass er schon bei der ersten Untersuchung den Bericht des Hausarztes angezweifelt hatte.
    »Aber ich   …« Mathilde wusste, was Dr.   Bernhard sagen wollte. »Ich bin nur ein bisschen aufgeregt heute   …«
    Dr.   Bernhard sah sie freundlich an. »Falls Sie heute ein schönes Rendezvous haben, gönne ich es Ihnen von Herzen. Aber ich möchte
     es noch einmal sagen: Ich muss Ihre Lunge genauer untersuchen, und es wäre gut, wenn Ihre Tante Sie das nächste Mal begleiten
     würde. Bitte lassen Sie sich gleich einen Termin für morgen oder übermorgen von der Schwester geben, ja?«
    Dr.   Bernhard begleitete Mathilde zur Tür. Er beunruhigte die Leute nicht gern ohne Grund, aber hier war Nachdruck geboten.
    Mathilde schob Dr.   Bernhards Worte so weit weg wie nur möglich, fuhr ins Hotel zurück, riss alle ihre Kleider aus dem Schrank, weil sie nicht
     wusste, für welches sie sich entscheiden sollte, wählte nach langem Hin und Her das weiße, dazu einen hellblauen Wollschal
     und klingelte nach dem Zimmermädchen, das ihr noch einmal frisches Wasser bringen sollte.
    James würde sie vor dem Hotel erwarten und zum Mittagessen ausführen. Sie wollten nicht im Hotel Kursaal Maloja essen, Kate
     würde sich sonst sofort an ihre Fersen heften, und daran lag ihr nun gar nichts. Sie wollten allein sein, James und sie. James
     hatte ihr das letzte Mal zugeflüstert:
    »Sie werden sehen, wir entkommen allen, und wenn ich Sie entführen muss   …«
    Das war natürlich höchst unanständig und deshalb ganz besonders anziehend. Tante Betsy würde einen Schreikrampf bekommen,
     wenn sie erführe, dass sie mit James allein gewesen war. Aber sie würde es nicht erfahren, denn Edward, der es hätte bemerken
     können, war ja mit Tante Betsy unterwegs. Und Kate würde sie schon einen Grund auftischen,warum sie nicht zum Mittagessen im Hotel gewesen war. Mathilde hastete die große Treppe hinunter, und fast wäre sie über ihren
     Sonnenschirm gestolpert, mit dem sie übermütig jede einzelne Treppenstufe antippte.
    James wartete diskret nahe dem Eingang. Er hatte Kate gegenüber eine kleine Notlüge gebraucht.
    »James«, hatte sie vor zwei Tagen zu ihm gesagt und vertraulich seinen Arm genommen, »Sie sind mir etwas schuldig. Ich habe
     Ihnen nämlich einen Tag mit Mathilde verschafft, ohne Tante Betsy, im Übrigen auch ohne Ihren Freund, denn ich habe die beiden
     zusammengespannt. Am kommenden Mittwoch stürmen sie gemeinsam die Berge. Nun, was bekomme ich dafür?«
    James hatte ihr die Hand geküsst.
    »Ich wäre schwer in Ihrer Schuld, wenn Sie das ohne Hintergedanken getan hätten. Aber ich müsste Sie sehr schlecht kennen,
     wenn dem so wäre. Aber Sie« – er sah an Kate vorbei, was ihm einen Minuspunkt eintrug   –, »was haben Sie davon, wenn ich den Tag mit Mathilde allein verbringe?«
    »Ich, lieber James, werde Mathildes Anstandsdame sein und Sie und das lockige Schäfchen nicht aus den Augen lassen. Ich nehme
     meinen Auftrag ernst, wissen Sie.«
    Sie schenkte ihm ihr strahlendes Lächeln, das, wenn man sie gerade erst kennenlernte, spontan und so unverfänglich offen zu
     sein schien. »Ich werde mich an Mathildes Verliebtheit freuen. Ist es nicht wunderschön, einem verliebten Paar, dem erwachenden
     Begehren zuzuschauen? Oder kennen Sie etwas Bezaubernderes als das

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