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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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Hotel wohnt«, sagte Bice Bugatti, die Signora
     Bice genannt wurde, weil sie nicht mit Segantini verheiratet war. »Sie erwähnte, dass sie Giovanni schon mehrmals im Park
     bei der Straniera angetroffen habe, die Sie, so sagt Giovanni, für die Gartenarbeit angestellt haben. Sagen Sie, Signore Robustelli,
     ist das so? Ist Ihnen aufgefallen, dass mein Mann öfter hierherkommt, um die junge Frau zu sehen? Er sagt, er kenne sie, wolle
     sie wieder zum Sprechen bringen   …«
    Robustelli nickte besänftigend.
    »So ist es. Andrina Biancotti hat mich gefragt, ob ich nicht Arbeit für die junge Frau hätte, und ich habe sie angestellt.
     Signore Segantini sagte mir, er kenne die junge Frau aus Mulegns, wo man ihm erzählt habe, sie sei als Säugling ausgesetzt
     und dann einem Bauern als Verdingkind übergeben worden. Sie sei nicht stumm, meint er, und er wolle sie wieder zum Sprechen
     bringen.«
    Seine Stimme war ruhig und fest, und die Tatsache, dass sich die Aussagen deckten, beruhigte Bice Bugatti.
    »Nun, und dass Ihr Mann jetzt viel öfter herkommt als früher, kann ich nicht behaupten. Er schätzt das Hotel, er schaut seit
     eh und je gelegentlich bei mir herein, fragt, wann es wieder ein Konzert gibt, spricht ein paar Worte mit den Leuten   … Das hat er immer getan.«
    Bice war froh über diese besonnene Antwort, die ihr ersparte, weiter nachzugrübeln. Sie sah Achille Robustelli, der nicht
     ganz ohne Schuldgefühle war, dankbar an.
    »Danke, Signore Robustelli. Man begegnet sich ja im Dorf, aber die Fremde ist scheu. Mit den Biancottis, bei denen sie lebt,
     haben wir wenig zu tun, und sie scheint nur die Giuseppina aus der Wäscherei zu mögen. An allen anderen huschtsie vorbei. Trotzdem zieht sie die Blicke auf sich. Und die Gedanken. Sagen Sie, im Winter ist das Hotel doch geschlossen.
     Wohin wird sie dann gehen?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Achille Robustelli freundlich und begleitete Bice hinaus.
     
    Warum hatte er Segantini in Schutz genommen? Achille wusste es nicht. Bice liebte Segantini und sorgte sich, dass jemand in
     den behüteten Garten einbrechen könnte, obwohl kein Mensch die Liebe hindern kann, sich zu nehmen, was sie will. Segantini
     zog es zu Nika. Die Anziehung war so groß, dass er unvorsichtig wurde und über die Konsequenzen seines Handelns nicht mehr
     nachdachte. Und das Mädchen liebte mit einer Leidenschaft, die unerfüllt bleiben und unglücklich enden musste. Und doch hatte
     Achille nichts unternommen, um diese Menschen wieder zur Vernunft zu bringen. Weder hatte er Segantini zu verstehen gegeben,
     dass vielleicht auch andere Menschen die Szene, in der Nika Segantinis Hand in heftiger Bewegung an ihr Gesicht gedrückt hatte,
     beobachtet haben könnten. Noch hatte er Nika zu sich gerufen und ihr verboten, sich während ihrer Arbeit zu privaten Gesprächen
     verleiten zu lassen. Das alles hatte er nicht getan und stattdessen Bices Zweifel zerstreut. Warum? Warum faszinierte ihn
     so sehr, was er sah? Es war nicht nur seine Diskretion, die ihn vom Handeln abhielt, oder der Schulterschluss mit einem Geschlechtsgenossen.
     Nein. Er sehnte sich nach dem Gefühl jenseits aller Vernunft, er sehnte sich nach der Liebe.
    ***
    Nika zeichnete. Sie zeichnete in ihr Skizzenheft und auf jeden Zettel, den sie fand. Segantini hatte ihr ein neues Heft gebracht,
     als das alte voll war, und dann noch eines. UndNika übte sich im Schreiben. Neben die Zeichnungen, die sie gemacht hatte, schrieb sie sorgfältig die Namen der Dinge, die
     sie gezeichnet hatte: See, Boot, Hotel, Baum, Gaetano. Segantini zeigte ihr, wie man beim Zeichnen den Stift hielt, seine
     Hand führte ihre Hand. Sie begann zu zittern, wenn sie die Wärme seiner Haut spürte. Sie war es nicht gewohnt, berührt zu
     werden. Sanft berührt zu werden. Er sah sie kurz an, ging ohne ein Wort darüber hinweg.
    »Versuche, ein Selbstporträt zu zeichnen«, sagte er eines Tages. »Es macht nichts, wenn es nicht gelingt. Es ist sehr schwer,
     sich selbst darzustellen. Wer von uns begreift sich schon.«
    »Ich werde es versuchen«, sagte Nika.
    Sie ging ins Hotel und schlich sich in eine der Gästetoiletten, die das Personal nicht benutzen durfte. Nur dort waren Spiegel
     angebracht, und nur dort konnte sie sich unbeobachtet einschließen. Mit einem scharfen Stein und einem einzigen Schlag zertrümmerte
     sie den Spiegel über dem Waschbecken. Aus den Scherben, die klirrend zu Boden gefallen waren, suchte Nika eine

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