Bildnis eines Mädchens
lief, ließ das Dorf hinter sich, war auf der Straße, die nach
Marmorera und Bivio und von dort, sich verzweigend, über den Septimer und den Julierpass führte.
Zum Glück war es Ende Mai. Noch vor zwei, drei Wochen hätte es kein Durchkommen gegeben ohne feste Stiefel und warme Winterkleidung,
hätte der Schnee sie gezwungen, schon im nächsten Dorf aufzugeben. Aber solange sie nicht weit genug weg war von ihrem Dorf,
war die Gefahr groß, dass man sie kannte oder von ihr wusste und sie zurückschickte. Sie musste über den Pass.
Der Septimer führte direkt ins Bergell und nach Italien hinüber, das wusste sie, aber er war einsam und wurde wenig benutzt,
die Julierstraße war als Postroute viel besser ausgebaut. Geld für die Postkutsche hatte sie nicht, aber sie konnte hoffen,
dass ein Wagen sie ein Stück mitnahm, wenn sie erstweit genug von Mulegns entfernt war, um keinen Verdacht mehr zu erregen.
Als die Dunkelheit hereinbrach, verkroch sie sich in der Nähe von Bivio in einem Stall, brach am Morgen in aller Frühe wieder
auf. Den Durst konnte sie noch mit Schnee stillen, es gab genug davon, je höher sie kam. Aber der Hunger quälte sie.
Die Passstraße schlängelte sich schon gegen Silvaplana zu, die Passhöhe war überwunden, als tatsächlich ein Wagen anhielt.
Ein Mann sah aus dem Fenster, fragte, ob sie neben dem Kutscher aufsitzen wolle, man könne sie mit nach Silvaplana nehmen.
Nika, durchgefroren bis auf die Knochen, das Wolltuch eng um die Schultern gewickelt, stieg dankbar auf. Der Kutscher, ein
freundlicher Mann, hob die schwere Decke an, die über seinen Knien lag, damit auch Nika ihre Beine darunterstrecken konnte.
Er fuhr mit einem Peitschenknall wieder an, sagte nichts, hielt ihr aber die Feldflasche mit warmem Tee hin.
Heiß rann der Tee durch Nikas Kehle, und sie hätte nicht sagen können, was da so brannte: der Tee oder die Tränen der Erleichterung,
als mit einem schmerzenden Kribbeln langsam wieder das Gefühl in ihre steif gefrorenen Füße zurückkehrte.
Als sie nach Silvaplana kamen, hatte sie noch einmal Glück. Der Kutscher sagte: »Wir bleiben hier. Wenn du Richtung Maloja
und Italien willst«, er zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Richtung, »musst du hier lang.«
So wusste Nika, wohin sie sich wenden musste. Sie schlug den Höhenweg nach Maloja ein.
Neue Erfahrungen
Nicht nur Nika wurde von Erinnerungen geplagt. Auch Mathilde verfolgte der Mittag, den sie heimlich mit James in der Pension
Veraguth verbracht hatte, bis in den Schlaf. Wie hatte sie ihm und sich so nachgeben können!
Ohne Eile hatte James Mathilde die Handschuhe von den Fingern gezogen, ihre Handflächen geküsst und ihre Hände erst losgelassen,
als er sicher war, dass sie sie um seinen Hals schlingen würde. Und genau das tat sie, schloss die Augen, hielt ihm voll Erwartung
ihr Gesicht entgegen, als beschiene sie die Sonne, aber er küsste sie nicht. Er löste den mit einem leuchtend blauen Schmetterling
verzierten Kamm aus ihrem Haar, fuhr, während sie den Atem anhielt, durch die blonden Ringellocken, fasste das widerspenstige
Haar wieder in ihrem Nacken zusammen und zog ihren Kopf sanft nach hinten. Sie gab nach, ohne dass es ihn die geringste Anstrengung
kostete, ihre Augen waren noch immer geschlossen, und jetzt küsste er sie, zuerst den nach hinten gebogenen Hals, die kleine,
wohlgeformte Ohrmuschel, die vor Aufregung gerötete Wange, die Schläfe, auf der sich ein winziger Leberfleck befand. Mathilde
öffnete die Lippen, er fuhr mit dem Finger den weichen Konturen ihres Mundes nach. Wie jung dieser Mund war.
»Mathilde«, sagte er leise, »hast du schon einmal einen Mann geküsst?«
Sie nickte mit geschlossenen Augen. »Nicht richtig«, murmelte sie dann und hielt ihm weiter die Lippen hin.
»Mach die Augen auf«, sagte James, »schau mich an.«
Mathilde spürte seine Hände an ihrem Hals. Sie glitten tiefer, lagen auf ihrer Brust, begannen vorsichtig, auf Widerspruch
gefasst, einen Knopf nach dem anderen zu öffnen, glitten unter den weißen Stoff ihres Kleides, sommerlichen Musselin, schoben
sich unter ihr Hemd, lagen auf ihrer nackten Brust. Sie wollte ihn nicht ansehen, lieber nicht, es war nicht recht, was sie
zuließ, aber es war ja nicht nur das, sie wollte nichts als seine Hand spüren, die ihre Haut erkundete. Er tat es an ihrer
Stelle, als erforsche endlich sie selbst den eigenen Körper und seine Wünsche. Adrian kam ihr in den Sinn,
Weitere Kostenlose Bücher