Bildnis eines Mädchens
Sie wusste nicht mehr,
was sie wollte.
Das Medaillon hatte ihr eine Aufgabe gestellt. Es forderte sie dazu auf, ihre Mutter zu finden. Und es gab den Zettel in dem
Medaillon, der enträtselt werden musste. Man schreibt keinen Zettel, faltet ihn zusammen und steckt ihn in ein kostbares Medaillon,
wenn man nicht will, dass er gelesen und verstanden wird. Aber mit dem Alphabet, das Nika gelernt hatte, ließ sich das Geschriebene
nicht lesen. Es waren andere, fremde Schriftzeichen, die ihre Mutter verwendet hatte.
Nika war zornig, dass ihre Mutter sie ihrem elenden Schicksal überlassen hatte und sie trotzdem zwang, an sie zu denken, sich
den Kopf über sie zu zerbrechen, sich nach ihr zu sehnen.
Sie war auch zornig auf Segantini, aus dem gleichen Grund. Er war der erste Mensch in ihrem Leben, der sich wirklich liebevoll
mit ihr befasste, der sie verstand, ihr gab, was sie brauchte. Und trotzdem stieß er sie zurück, wollte die Liebe nicht haben,
die er doch selbst in ihr erzeugt hatte.
Und Nika war zornig auf sich selbst. Wieder liebte sie ins Blaue hinein, ohne Hoffnung auf Erfüllung.
Alle Zeichnungen würde sie zerreißen, alle Hefte. Sie hatte Arbeit im Hotel, und Signore Robustelli war ein freundlicher Mensch,
er würde sie den Winter über vielleicht anderswo unterbringen und im kommenden Sommer wieder anstellen. Sie verdiente ein
bisschen Geld, hatte zu essen und wurde nicht mehr geschlagen wie beim Bauern, der ihr jedes Stück Brot missgönnt hatte. Das
war genug, um glücklich zu sein.
Sie öffnete den Kragen ihrer Bluse und nahm die Kette mit dem Medaillon vom Hals. Sie würde es nicht mehr tragen. Sie würde
auch ihre Mutter nicht mehr suchen. Wo auch? Sie war fortgelaufen aus Mulegns, weil sie gehofft hatte, irgendwie,durch ein Wunder, würde sie ihre Familie finden. Aber Wunder gab es nicht.
Und Segantini sollte sich davonscheren.
Sie würde arbeiten, den Wunsch, lesen, schreiben, zeichnen zu können, aus ihrem Kopf vertreiben. Am Ende der Saison mit Signore
Robustelli sprechen. Alle dummen Träume begraben mitsamt dem Medaillon.
Gaetano würde froh sein, wenn sie wieder ungehindert ihrer Arbeit nachging. Er schätzte die Besuche, die sie erhielt, schon
seit einiger Zeit nicht mehr, und es würde nicht mehr lange dauern, bis er sich bei Signore Robustelli beschweren würde.
Nur die Spiegelscherbe, die behielt sie in ihrer Schürze, obwohl sie sich an der scharfen Kante schon einmal geschnitten hatte.
In der kommenden Nacht träumte Nika von ihrer Flucht aus Mulegns. So genau und echt war der Traum, dass sie beim Aufwachen
nicht wusste, wo sie war.
Mein Gott, ja. Die Flucht.
Eines Morgens Ende Mai hatte die Bäuerin begonnen, das ganze Haus auf den Kopf zu stellen, hatte Nika befohlen, die Dielen
zu scheuern, die Fenster zu putzen. Plötzlich kam sie auf die Idee, die große hölzerne Truhe, in der sich die Kleider der
ganzen Familie befanden, vors Haus zu schleppen. »Fass an!«, rief sie Nika herbei. »Ich will die Kleider durchsehen. Morgen
kommt Besuch aus Chur.« Das klang ganz und gar nicht erfreut, aber Nika konnte sich keinen Reim darauf machen. Noch nie war
jemand aus Chur gekommen. »Das hat uns gerade noch gefehlt«, klagte die Bäuerin. »Dass du ja reinlich und adrett aussiehst
morgen.« Und schon sah Nika mit Entsetzen, wie die Frau den Truhendeckel öffnete und begann, alles aus der Truhe zu reißen,
was immer wieder unordentlichhineingestopft worden war. Wenn die Bäuerin jetzt tatsächlich alles herausräumte, durchsah und in Ordnung brachte, würde sie
bemerken, dass das Medaillon fehlte.
»Ich hab doch vor Jahren …«, murmelte die Frau.
Nika konnte nicht mehr klar denken. Sah nur, dass die Bäuerin das Fehlen des Medaillons in wenigen Momenten entdecken musste.
Kam nicht auf die Idee, sie könnte einfach so tun, als wisse sie nicht, worum es ging. Wusste nur, dass sie sich verraten
würde in ihrer Verzweiflung und dass der Bauer ihr die Seele aus dem Leib prügeln würde.
Als eilte ihr ein Engel zu Hilfe, unterbrach die Bäuerin plötzlich ihre Arbeit und ging ins Haus. Nika nutzte diesen einen
letzten Augenblick, lief hinter den Stall, warf den Stein zur Seite, der ihr Versteck bezeichnete, buddelte mit bloßen Fingern
die Erde auf, riss die Kette mit dem Medaillon heraus und lief davon. Der Hund bellte ihr nach. Nika hörte noch, wie die Bäuerin,
die noch nichts bemerkt hatte, ihn ausschimpfte. Sie lief und
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