Bildnis eines Mädchens
heraus, versteckte
sie in ihrer Gartenschürze, wartete ab, bis sich draußen nichts regte, und huschte wie ein Schatten wieder hinaus.
Sie zeichnete und schrieb langsam Buchstaben und Worte am Abend, bevor sie einschlief. Am frühen Morgen, bevor sie arbeiten
ging, zeichnete sie sich selbst. Es war schwer, ihr Gesicht so abzuzeichnen, bei dem kleinen Ausschnitt, den die Scherbe bot.
Sie verzweifelte daran. Der Spiegel fragmentierte ihr Gesicht – da war der Haaransatz, ein Stück Stirn, ein Auge, die Nase –, und schließlich tat sie dasselbe auf dem Papier. Eine neue Zeichnung für Nase, Mund und Kinn, Ohr und Wange.
Sie schenkte die Zeichnungen Segantini. Er sagte nichts dazu, strich ihr nur mit einem Finger über die Stirn, um ihren Haaransatz
mit dem auf der Zeichnung zu vergleichen.Sie griff nach seinem Finger, hielt ihn fest. Er entzog ihr die Hand.
Als er das nächste Mal kam, brachte er ihr einen Strauß Alpenrosen mit.
Sagte noch immer nichts zu den Zeichnungen.
Sie zeichnete ihren Oberkörper, die Blumen lagen zwischen ihren nackten Brüsten, man sah noch den gekrausten Rand des zurückgeschobenen
Hemdes. Ihr gefiel die Zeichnung. Sie rollte sie zusammen und band ein rotes Samtband darum, das sie eines Tages vor dem Hotel
gefunden und sorgsam aufbewahrt hatte. Segantini nahm die Rolle entgegen, öffnete das Band aber nicht.
»Es ist ein Geschenk«, sagte Nika. »Ich möchte, dass Sie es ansehen und mir sagen, ob es Ihnen gefällt.«
»Ich sehe es später an«, antwortete er, »wenn ich allein bin.«
Er sah, dass sie gekränkt war.
»Sie haben Angst«, sagte sie, und in ihrer Stimme klangen Ärger und Enttäuschung mit. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Angst
haben.«
Er wollte etwas erwidern, aber sie riss ihm zornig die Rolle aus der Hand, zog die Schleife ab und zerriss das Blatt. Die
Fetzen flatterten auf den Boden.
Dann ging sie, ohne sich noch einmal umzusehen.
Sie hatte recht. Er hatte Angst. Seit einiger Zeit schlief er schlecht, was ihn verstimmte, da er am Morgen und tagsüber alle
Sinne brauchte, um zu malen. Er dachte zu oft an Nika, und das brachte alles durcheinander, seinen Tagesablauf und seinen
Körper. Er leistete in Gedanken Bice Abbitte und konnte seine Fantasien doch nicht zügeln. Bice hatte ihn nicht auf Betsys
Bemerkung angesprochen, aber er wusste, dass sie hellhörig geworden war. Auch er schwieg, und fast lag eine gewisse Rebellion
darin, ein Trotz, mit dem er sich ein StückFreiheit, ein Stück Leben ganz für sich bewahrte. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, und niemand konnte ihm vorwerfen,
dass er einem jungen Menschen half. Er förderte auch andere, etwa Giovanni Giacometti, den Freund aus Stampa, der ein begabter
Maler war. Trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen. Hätte er mit Bice gesprochen, hätte er seine Besuche bei Nika womöglich
einstellen müssen, Bice zuliebe, weil er sie liebte und brauchte wie niemanden sonst. Aber nicht mehr in den Park zu gehen,
war ihm unmöglich.
Wenn er Nika besuchte, leuchtete ihm ihr Haar schon von Weitem wie eine Versuchung entgegen. Die »Bösen Mütter«, die »Wollüstigen«
auf seinen Bildern hatten Nikas Haar, waren wie sie. Die tröstliche Fürsorglichkeit und Mütterlichkeit, die die Baba trotz
ihrer Jugend besaß, gingen Nika ab. Sie forderte ihn heraus, als sei sie ihm ebenbürtig, und brachte alles durcheinander,
was er sorgsam zu einer Ordnung gefügt hatte.
Er setzte die Fetzen der zerrissenen Zeichnung sorgfältig wieder zusammen und verleimte sie. Schamlos war sie, seine Rosen
zwischen ihre Brüste zu legen. Das struppige Grün, das sie gezeichnet hatte, machte ihr Fleisch noch weicher. Ein schamloser
Ruf war in diesem Bild, ein leidenschaftliches Verlangen.
Sie war aufsässig, erregbar wie er, begierig zu lernen, voller Hunger und Durst nach dem Leben.
Es schickte sich nicht für eine Frau, einem Fremden wie ihm so schamlos ihre Brüste zu zeigen, selbst wenn es nur eine Zeichnung
war. Es war, als böte sie selbst sich ihm dar. Ja, das wollte sie, dass er sich ihren Körper vorstellen musste, wann immer
er die Augen schloss.
Und so war es. Er wollte wissen, wie ihre Haut sich anfühlte, deshalb hatte er ihr beim Zeichnen die Hand geführt.
Und er wusste bei Gott nicht, was er davon halten sollte, dass sie ihm so ähnlich war.
Nika hingegen fühlte eine unbestimmte Wut in sich aufsteigen, die alle anderen Gefühle überschwemmte.
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