Bildnis eines Mädchens
Sie war lebhafter
und leidenschaftlicher, als der äußere Anschein es vermuten ließ – gerade das hatte er so an ihr geliebt, und genau das war
es gewesen, was ihn so unglücklich gemacht hatte. Er war nicht verspielt wie Jamie, sein Witz und seine Schlagfertigkeit funkelten
selten in großer Gesellschaft. Man entdeckte ihn nur, wenn man sich Zeit dafür nahm, und James, der lange Schuljahre mit ihm
geteilt hatte, hatte die Zeit dazu gehabt. Emily ließ sich leicht von anderen Menschen hinreißen, aber Edward war nicht hinreißend,
bei allem guten Aussehen. Seine Zärtlichkeit, sein Humor und seine Abgründe lagen unter einer Schicht von Höflichkeit verborgen,
und kaum jemand machte sich die Mühe, sich vorzustellen, dass hinter seiner zur Schau getragenen Konventionalitätund einer gewissen langweiligen Rechtschaffenheit ein ganz erstaunliches Ausmaß an Gefühlen und Leidenschaften zu entdecken
sein könnte. Emily jedenfalls hatte sich nicht darauf eingelassen, Edward zu entdecken, der sich, das musste er selbst zugeben,
mit hoher Kunstfertigkeit versteckte.
»Die Geschichte mit Mathilde ist schwierig«, sagte James schließlich. »Tuberkulose. Nicht gerade, was man sich wünscht.« Er
machte eine Bewegung, als wolle er diese unerfreuliche Angelegenheit von sich abschütteln.
»Ich meine, aus ihrer Warte betrachtet«, fügte er schnell hinzu. Und doch hatte Edward den Verdacht, dass James vor allem
von sich selbst redete. Eine kranke Geliebte – das war nicht eben sein Traum.
»Hast du sie schon besucht? Ihr geschrieben?«, fragte er nach, doch James schüttelte wieder den Kopf.
»Ich hab es doch eben erst erfahren. Zusammen mit dir.« Nun, das war wahr. Aber er schien sich nicht gerade wahnsinnig für
die kranke Mathilde zu interessieren.
»Ich verabscheue Krankenhäuser«, sagte James stattdessen, »sie haben etwas Ansteckendes. Je septischer sie riechen, umso mehr
fürchte ich mich vor dem, was mir an Widerwärtigem widerfahren könnte. Krankheit ist so hässlich.« Und, als Edward schwieg:
»Machst du etwa gern Krankenbesuche?«
»Es macht mir nichts aus«, entgegnete Edward.
***
»Ich hoffe, ich kann Ihnen helfen, Mr. Danby«, meinte Achille Robustelli. »Es bleibt nicht viel Zeit, einen Dolmetscher zu finden, wenn Ihr Treffen mit Signore Segantini
schon morgen stattfindet, aber ich werde mein Möglichstes tun, um Signore Bonin zu erreichen. Er ist Gast in unserem Haus,
ein liebenswürdiger junger Mann und für diesen Sommer Sekretär desGrafen Primoli. Der Graf schätzt unser Hotel sehr …« Robustelli unterbrach sich kurz, um dem Hoteldirektor, der den Kopf zur Tür seines Büros hereinstreckte, einen Brief auszuhändigen.
Dann fuhr er fort: »Bonin ist Italiener, spricht aber fließend Englisch und ist mit der bildenden Kunst bestens vertraut.
Und mit der Fotografie natürlich, sonst wäre er nicht bei dem Grafen, der, wie Sie vielleicht wissen, einer der berühmtesten
Fotografen unserer Zeit ist.«
Es ließ sich nicht leugnen, dass Robustelli die Gäste aus Italien besonders schätzte, was vielleicht Ausdruck eines leisen
Heimwehs war, das er nicht einmal sich selbst eingestand.
»Wenn Sie also am Nachmittag noch einmal anrufen würden? Die Pension Veraguth hat, so viel ich weiß, keinen Telefonanschluss,
sonst hätte ich mich bei Ihnen melden können, sobald ich Näheres in Erfahrung gebracht habe.«
Tatsächlich gelang es Robustelli, Fabrizio Bonin, einen jungen Venezianer, dazu zu bewegen, am nächsten Tag das Gespräch von
Signore Segantini mit Mr. Danby zu dolmetschen. Robustelli war zwar stolz, diese Aufgabe so gut und vor allem in so kurzer Zeit gelöst zu haben, aber
bescheiden, wie er war, schrieb er die Zusage Bonins nicht seinem eigenen Geschick, sondern dessen Unkompliziertheit zu und
der Tatsache, dass wohl jeder der Gäste eine Begegnung mit dem bekannten Maler interessant gefunden hätte.
Eine weitaus größere Herausforderung stand Achille indessen noch bevor. Die Signora Bice hatte nämlich kurzfristig ihren Besuch
angekündigt. Er seufzte.
»Entschuldigen Sie, Signore Robustelli, dass ich Sie bei der Arbeit störe. Ich bleibe nicht lange.«
Er bot der Signora umständlich Platz an, um Zeit zu gewinnen und darüber nachzudenken, was seine Pflicht und Schuldigkeitin diesem Fall wäre, denn er ahnte schon, worum es ging.
»Wir hatten gestern Besuch, darunter auch von einer Signora, die als Gast hier im
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