Bildnis eines Mädchens
bedrohlichen Gefühle, die er aus seinem
Leben zu verbannen suchte? Mussten die Frauen, die Gnade vor Segantinis Augen fanden, so sein, wie er seine Mutter gerne gesehen
hätte?
Die Zeit im Internat kam James plötzlich wieder in den Sinn. Wütend war er gewesen auf seine Mutter, gehasst hatte er sie,
dass sie ihn nach England geschickt, ihn solcher Einsamkeit überlassen hatte. Sie wollte das Beste für ihn. Er wusste es.
Und deshalb durfte er nicht böse sein auf sie, nichts von seiner Wut zeigen. Aber gerade das machte ihn noch wütender. Vielleicht
war es Segantini ähnlich gegangen.
James wusste plötzlich, dass er sich die Frage danach sparen konnte. Segantini hatte zwar eine Antwort gemalt, sie aber nicht
begriffen. Mit den liebevollen Müttern malte er sich das Ideal der fürsorglichen Mütterlichkeit, die er als Kind vermisst
hatte, und in den »bösen Müttern« schlug sich seine Wut auf jenen Mangel nieder. Und obwohl seine Mutter nichts für ihren
frühen Tod konnte, musste er sie doch strafen, wenigstensda, wo das Licht seines Verstandes nicht hinkam, sondern nur ein verborgenes Gefühl herrschte, das er vor James und vor sich
selbst abgestritten hätte.
Segantini war dem Dunkel seiner Kindheit entkommen, indem er das Licht gesucht und das Ideal gefunden hatte – obwohl gerade
er wie kein anderer die Übergänge zwischen Hell und Dunkel meisterlich gestaltete. Er stellte am besten dar, was er nicht
nur liebte, sondern auch fürchtete: die Dämmerung, die blaue Stunde, in der die Süße der Melancholie lag, aber auch die Finsternis
der Verlorenheit lauerte.
Segantini suchte das schattenlose Ideal, er malte die Idee, den Gedanken. Aber am großartigsten war er im Gestalten des gebrochenen
Lichts, das all die Schmerzen mitumfasste, denen er sein Leben lang zu entkommen suchte.
James kehrte nach St. Moritz zurück. Er war beeindruckt von Segantini, von dem Kampf, den die Menschen gegen die Geister ihrer
eigenen Geschichte führen, im Bestreben, dem Sinnlosen Sinn zu geben, der Gleichgültigkeit die Schönheit und die Liebe entgegenzusetzen.
Oder das, was sie dafür hielten.
***
Segantini war zufrieden mit dem Interview. Je älter er wurde, umso lieber äußerte er sich zu seiner Arbeit und zu kunsttheoretischen
Fragen. Aufgeräumt sagte er zu Achille Robustelli, der ihn nach dem Gespräch begrüßte: »Danke, Robustelli, dass Sie in diesem
Fall vermittelt und sogar einen Dolmetscher gefunden haben. Ich hatte ein angenehmes Gespräch mit Mr. Danby.«
»Das freut mich«, erwiderte Robustelli. »Darf ich Sie noch ein paar Schritte begleiten? Ich wollte kurz eine andere Sache
mit Ihnen besprechen.«
»Natürlich. Nur zu.«
»Es handelt sich um eine delikate Angelegenheit. Ich hoffe, Sie verübeln mir meine Worte nicht. Gaetano, der Gärtner, hat
sich beschwert, dass Nika zu viel von der Arbeit abgelenkt wird.« Achille holte tief Luft. »Sie besuchen sie häufig und haben
sie wohl auch mitten aus der Arbeit mit nach St. Moritz genommen.«
Segantini wollte aufbrausen, aber Robustelli legte besänftigend die Hand auf seinen Arm.
»Warten Sie einen Moment. Ich möchte Sie nicht kritisieren. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass dem Mädchen aus diesem Verhalten
Schwierigkeiten erwachsen. Eigentlich müsste ich sie entlassen. Sie darf nicht einfach von der Arbeit weglaufen, auch wenn
Sie«, er räusperte sich, »sie dazu auffordern. Wenn sich das herumspricht, gibt es böses Blut. Und die negativen Folgen werden
Nika treffen, nicht Sie.«
»Niemand kann mir etwas vorwerfen«, sagte Segantini ärgerlich.
»Aber es wird Ihnen sicher nicht gleichgültig sein, wenn ich Nika nicht mehr hier beschäftigen kann. Sie wird dann kaum hier
in Maloja bleiben können. Die Biancottis werden sie nicht einfach so durchfüttern.«
Segantini machte eine heftige Bewegung mit der Hand und maß Robustelli dann mit einem kühlen Blick.
»Sie scheinen sehr besorgt um das Mädchen.«
Achille schwieg. Er fand diese Sorge nur normal und hätte sich gewünscht, Segantini würde sie ebenso walten lassen.
»Ich habe gehört, was Sie sagen, Robustelli.«
Mit diesen Worten wandte sich Segantini ab, hob die Hand zum Abschied und ging schnell davon.
Achille sah ihm nachdenklich hinterher. Zum ersten Mal, seit er ihn kannte, war ihm Segantini unsympathisch.
Er ging in sein Büro, schloss die Tür hinter sich und setztesich hinter seinen Schreibtisch. Er nahm das silberne
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