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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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und zeichnete. Als sie einen Moment nicht aufpasste, schrieb sie: »Ich liebe Segantini.«
    ***
    Gian hatte sich gut von seiner Krankheit erholt, und Benedetta dankte der Jungfrau Maria, was sie schon lange nicht mehr getan
     hatte. Sie gab ihren Ältesten nicht gern wieder her, aber Aldo setzte sich durch. Gian würde nur zum Gespött werden, wenn
     er an der Schürze seiner Mutter hänge, sagte er, und daran könne auch ihr, Benedetta, nicht gelegen sein.
    Trotzdem fürchtete sie, ihr Traumwandler könne sich dort oben in den Bergen in der Einsamkeit verlieren und abstürzen. Er
     war jetzt, nach seiner Krankheit, noch verschlossener als früher. Wenn es niemand sah, strich sie über sein strubbeligesHaar, dann lächelte er sie an mit seinem etwas zerfahrenen, im Nichts verlorenen Lächeln. Er war ein so hübscher Junge mit
     seinen braunen Augen und dem weichen, spitzbübischen Gesicht. Es fehlte ihm, konstatierte Benedetta mit einem Seufzen, jede
     Aggressivität und damit etwas von dem, was es zum Leben braucht.
    Er wehrte sich nicht, als sein Vater ihn wieder hinauf nach Grevasalvas schickte. Benedetta ging mit ihm, bepackt mit allerlei
     guten Sachen, die sie für ihn eingemacht, vorgekocht, geräuchert und geselcht hatte. Nika hatte ihn begleiten wollen, aber
     das wollte Benedetta nicht, vielleicht weil sie eine mütterliche Ahnung hatte, dass ihr Sohn im Stillen an eben diesem Mädchen
     litt.
     
    Gian liebte den Blick auf das wuchtige Massiv des Lagrev, dessen Flanken von Felsabstürzen und langen Geröllbahnen gezeichnet
     waren. Er liebte den Wasserfall, der zwischen den Hütten und Ställen von Blaunca hindurchrauschte und dessen Gischt aus Wasserstaub
     man riechen konnte. Und er liebte die vier kleinen braunen Kühe, die seiner Obhut anvertraut waren. Dennoch fühlte er sich
     einsam, ein Gefühl, das er so bisher nicht gekannt hatte. Aber jetzt war da Nika, und wegen ihr wusste er, was Einsamkeit
     war. In ihrer Nähe empfand er etwas anderes, als wenn er allein war. Was er neben ihr spürte, war anders als alles, was er
     überhaupt je empfunden hatte. Plötzlich gab es verschiedene Gefühle in ihm, die er vergleichen konnte, und weil er vergleichen
     konnte, lernte er zu begreifen, dass es Momente gab, in denen er einsam war, und andere, in denen er es nicht war. Gian hatte
     die Liebe kennengelernt. Und das war ein Geschenk, das ihn traurig machte. Denn Nika hatte ihm gesagt, sie könne ihn nicht
     zurücklieben.
    »Ich will nicht, dass du mich auf den Mund küsst«, hatte sie sanft gesagt und das Gesicht weggedreht, als sie sich verabschiedeten.
     »Liebespaare küssen sich auf den Mund. Ich habe dich sehr gern. Aber das ist etwas anderes.«
    »Warum sind wir kein Liebespaar?«, fragte Gian enttäuscht.
    »Weil ich einen anderen Mann liebe«, antwortete Nika.
    »Dann hat Andrina also recht mit ihren Munkeleien.«
    Nika schüttelte den Kopf.
    »Nein. Hat sie nicht. Ich liebe Segantini. Aber er liebt mich nicht.«
    ***
    Achille Robustelli bemerkte, dass Segantini sich seltener im Hotel blicken ließ. Er war erleichtert darüber. Trotzdem machte
     ihn sein Erfolg nicht recht froh, weil er sah, dass Nika seitdem aussah wie eine Trauerweide. So bestellte er sie eines Tages
     in sein Büro, obwohl er eigentlich überhaupt nicht wusste, warum er sie sehen wollte.
    »Setz dich doch«, sagte er und, als sie sich gesetzt hatte: »Signore Segantini hat mir erzählt, dass du wieder begonnen hast
     zu sprechen. Mit ihm jedenfalls. Ich weiß nicht, ob du auch mit mir reden willst. Ich würde mich darüber freuen. Ich habe
     mich gefragt, was du tun wirst, wenn die Saison hier zu Ende ist. Du weißt wahrscheinlich, dass wir im Winter schließen.«
    Nika sah ihn aus ihren seegrünen Augen an. Täuschte er sich, oder blitzte etwas von Dankbarkeit in ihrem Blick auf?
    Sie schwieg und schien darüber nachzudenken, ob sie sprechen sollte oder nicht. Dann lächelte sie, und ihm war, als säße plötzlich
     eine ganz andere Frau vor ihm.
    »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte sie. »Ich habe auch schon darüber nachgedacht, was im Winter sein wird   …« Auf einmal lachte sie sogar. »Und ich dachte, ich bitte Sie um Hilfe!«
    Achille Robustelli strich sich, etwas verwirrt von so vielunerwartetem Zutrauen, über die früh ergrauten Schläfen, während er sich im Sessel zurücklehnte.
    »Ach, tatsächlich?«, murmelte er.
    Nika sah ihn ruhig an.
    Robustelli schwieg eine Weile. »Und«, meinte er dann, »was

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