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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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Stille.«
    James unterbrach Segantini. »Es kehren immer dieselben Grundmotive in Ihren Bildern wieder: die Mutterliebe, die Schicksalsgemeinschaft
     von Mensch und Tier, der Tod.«
    Segantini nickte. »Das lehrt einen die Natur: den unentrinnbaren Kreislauf von Geburt, Leben, Tod. Wir sind Teil davon, wie
     die Pflanzen, die Tiere. Die Natur ist nicht gut und nicht böse, sie ist. Die Religion sagt mir nicht viel, aber meine Liebe
     zur Natur ist grenzenlos. Endzweck meiner Bemühungen ist die absolute und restlose Kenntnis der Natur in allen ihren Abstufungen,
     von der Morgenröte bis zum Sonnenuntergang, in ihrem Aufbau und den Spielarten allen Seins, Menschen, Tiere, Planzen. Im Besitz
     all dieser Mittel will ich kraftvoll das Werk schaffen, das ideal sein wird.«
    James wurde es ungemütlich, wenn das Wort »absolut« oder »ideal« fiel, denn er fand das Leben und sich selbst sehr fehlbar
     und misstraute allen absoluten Wahrheiten. Es gefiel ihm, dass Segantini wenigstens dem Veltliner zusprach.
    »Aber die Natur ist nicht ideal«, warf er ein. »Sie sagen ja selbst, sie existiert einfach.«
    Segantini liebte Diskussionen durchaus, und Wein und Gedanken erwärmten ihn. »Die Natur ist, aber die Kunst gestaltet. Die
     Materie muss durch den Geist bearbeitet werden, um zu ewiger Kunst emporzuwachsen. Das Bild ist ein Gedanke, der in die Farbe
     übergeströmt ist. Kunst ohne Ideal wäre wie eine Natur ohne Leben. Was anderes ist denn die Kunst als das getreue Spiegelbild
     und der Maßstab der Vollkommenheit der menschlichen Seele?«
    James goss sich Wein nach, ehe die Flasche ganz leer war.»Ich zweifle an der Vollkommenheit der menschlichen Seele«, setzte er den glutvollen Äußerungen seines Gegenübers entgegen,
     die Bonin wahrheitsgetreu, aber ohne große Emotion übersetzte.
    Segantini zog die Jacke aus und fuhr sich durch die schwarzen Locken. »Aber streben müssen wir danach. Das wahre Leben ist
     ein einziger Traum, der Traum, sich allmählich einem Ideal zu nähern, das möglichst fern und hoch ist, hoch bis zum Erlöschen
     der Materie. Diesem Ideal gehe ich nach, ich suche es in der Höhe, draußen, wo in eisiger Kälte die Farbe auf der Leinwand
     gefriert   … Die menschliche Größe beginnt da, wo die bloß mechanische Arbeit unserer Hände, die grobe Handlung aufhört, wo die Liebe
     und die Geistesarbeit ihren Anfang haben.« Er lehnte sich zurück und fügte hinzu: »Wenn Sie wollen, können Sie mich zu den
     Plätzen begleiten, an denen ich gerade arbeite. Ich arbeite meist an verschiedenen Bildern gleichzeitig und lasse sie, geschützt
     in Holzkästen, bei Wind und Wetter draußen stehen.«
    James, der die bequemen Straßen der Großstadt liebte, war sich nicht sicher, ob ihn das Angebot reizte, doch bedankte er sich
     und sagte, er würde darauf zurückkommen. Und weil er die Frage, ob die Liebe ihren Anfang im Geistigen habe, lieber nicht
     diskutieren wollte, wechselte er das Thema und fragte: »Was ist Schönheit, Mr.   Segantini?«
    Bonin sah James Danby überrascht an und übersetzte.
    »Schönheit«, antwortete Segantini ohne Zögern, »Schönheit! Man braucht ja nur eine Blume zu betrachten. Sie sagt besser als
     jede Definition, was Schönheit ist   … Die Kunst ist die Liebe, in Schönheit gehüllt.«
    »Aber ist denn«, fragte Danby zurück, »die brüllende Kuh auf der Weide, die Sie gemalt haben, schön?«
    »Ja. Weil ich sie mit Liebe gesehen habe und weil das Bild wahr ist. Es zeigt die Kreatur – und wir unterscheiden unsnicht viel davon   –, so wie ich sie mit meinem Herzen gesehen und mit meinem Geist begriffen habe.«
    James nickte, nachdem Bonin Segantinis Worte übertragen hatte. Eigentlich hatte er die Sprache auf die »Strafe der Wollüstigen«
     bringen wollen, jenes Bild, das ihm in Liverpool wegen seiner Technik aufgefallen war, dessen Botschaft er jedoch ganz und
     gar nicht teilte. Und da gab es auch noch die »bösen Mütter« neben den madonnenhaften, die in den Bäumen hingen, halb nackt,
     mit ekstatisch zurückgebogenen Leibern, an einer Brust ein saugendes Kind mit einem Gesicht, das eher einem Mann zu gehören
     schien. Der Gesichtsausdruck dieser Frauen mit dem langen rötlichen Haar erinnerte James in ihrem verzückten Schmerz eher
     an Liebeserlebnisse als an die Strafen der Hölle. Konnte nur das Bild der reinen Mutterliebe Segantinis Seele Ruhe geben?
     Verkörperten diese sinnlichen Gestalten, die im Eis gefangen waren, all die fremden,

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