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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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Pferdekarren wird ein Toter im Sarg in seine Heimat zurückgebracht. Die Berglandschaft, die man darauf sieht, hat etwas von
     dieser hier   … Das Bild erhielt den internationalen Preis der Regierung.«
    James schüttelte den Kopf. »Nein. Kenne ich nicht.«
    Segantini, der vorausgegangen war, wartete auf die beiden. »Kommen Sie. Wir verlassen jetzt die Passstraße und haltenuns nach links. Es ist nicht mehr sehr weit. Wenn Sie aber einmal eine schöne Wanderung machen wollen, so gelangen Sie in
     dieser Richtung zum Cavloc-See. Ein sehr lohnender Ausflug.«
    Er drehte sich um, schaute in Richtung des Dorfs zurück und zeigte auf die kleine weiße Kirche, die etwas außerhalb lag.
    »Dort habe ich eines meiner jüngsten Bilder gemalt, ›Der Schmerz, vom Glauben getröstet‹. Ein Vater und eine Mutter trauern
     am Grab ihres Kindes, dessen Seele von zwei Engeln zum Himmel getragen wird. Leider kann ich Ihnen das Bild nicht zeigen,
     es ist gerade in München, bei der Ausstellung der Sezession   … Mich selbst tröstet die große, winterliche Weite der Landschaft, in die ich die Szene gestellt habe, mehr als die religiöse
     Vorstellung. Auch in der Natur sind wir aufgehoben, nicht nur in einer Religion.«
    Er ging wieder voran und blieb dann, mitten in der Landschaft, vor einem großen Holzkasten stehen, dessen Flügeltüren sich
     öffnen ließen. Sie gaben den Blick auf ein Gemälde frei.
    James, der sich nicht nur vor Krankenhäusern, sondern auch vor Toten fürchtete, atmete erleichtert auf. Eine wunderbare Winterlandschaft
     öffnete sich mitten in der spätsommerlichen Landschaft, in der sie standen.
    Das Gemälde hatte nichts Düsteres und Erschreckendes, vielmehr fühlte James sich auf magische Weise in das Bild hineingezogen,
     als ginge er auf knirschendem Schnee den verschneiten Pfad entlang auf die Berge zu, über denen eben die Sonne aufging. Ein
     Pferd mit Schlitten wartete auf den Sarg, der gerade aus einer Alphütte getragen wurde, trauernde Gestalten standen klein
     in der großartigen Landschaft. Über dem mächtigsten der Berge schwebte eine von der Morgensonne warm erleuchtete Wolke, wie
     ein Erlösung bringenderBote. James trat näher, begeistert fast wider Willen, denn der Winter war nicht seine Jahreszeit.
    Er bat Segantini, sich neben sein Bild zu stellen, und fotografierte die Szene. Er kniff die Augen zusammen, konzentrierte
     den Blick auf den majestätischen Berg, dessen Stirn von der Wolke berührt wurde und der das Gemälde dominierte. Er sagte nichts,
     aber als ihm das Wort »Stirn« in den Sinn kam, erblickte er plötzlich auch hier, im Berg, in der Form der Felsen das Gesicht
     des »toten Helden«.
    James erschrak, versuchte das monumentale Gesicht Segantinis, das ihm aus dem Gemälde entgegensah, wieder zu vertreiben, aber
     es gelang ihm nicht. Arbeitete Segantini hier an einer Apotheose seiner selbst? Oder sah er sich demütig aufgehen in der ewigen,
     unvergänglichen Natur, in der Landschaft, die er liebte?
    Er blickte Segantini von der Seite an. Der fühlte sich aufgefordert, etwas zu dem Bild zu sagen.
    »Sie sehen, es ist Winter, die Natur ist unter dem Schnee begraben, die Berge im Hintergrund sind von der aufgehenden Sonne
     beleuchtet. In der Alphütte ist ein Mädchen gestorben   …«
    »Wieso ein Mädchen?«, fragte James.
    Segantini antwortete nicht darauf.
    »Das Bild ist begonnen, aber noch lange nicht fertig. Ob es mir gelingen wird, die ewige Bedeutung des Geistes in den Dingen
     wiederzugeben? Werde ich das Licht einfangen können, das der Ferne Luft und Raum gibt und den Himmel unendlich macht? Wird
     mir die Verbindung gelingen zwischen dem Ideal der Natur und den Symbolen, die aus unserer Seele aufsteigen?«
    Symbole, dachte James, sind immer mehrdeutig. Vielleicht erhob Segantini sich selbst in die Unvergänglichkeit und war doch
     voller Demut? Wollte sich überhöhen und doch vergehenund sich auflösen, der Erlösung gewiss oder ihr anheimgegeben?
    »Sie werden das Licht des Winters brauchen, um dieses Bild zu vollenden«, sagte Bonin. »Es wird Ihnen gelingen. Aber noch
     ist es nicht so weit.«
    Und damit war der Tod, den Segantini immer wieder beschwor, noch einmal gebannt.
    ***
    »Wiedersehen, Tante Betsy! Wann kommst du mich wieder besuchen?« Mathilde hatte Tränen in den Augen, als sie ihre Tante umarmte.
     »Ich lass dich nicht gern gehen. Aber ich versteh schon, dass du auch mal wieder nach Hause musst.«
    »Tilda   …« Betsy zog

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