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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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gleich. Man kümmert sich nicht groß darum, wie es ihnen wohl geht. Zu verschenken hat
     hier keiner was.« Doch dann fasste sie wieder Zutrauen zu Robustelli, der ihre Worte mit verständnisvollem Nicken begleitete.
     »Der Bauer hat sie tatsächlich oft geschlagen. Und sie hat nicht genug zu essen bekommen. Ich hab ihr hier und da was hingestellt,
     wenn sie sich heimlich herschlich.« Sie lehnte sich etwas zu Robustelli hinüber und senkte die Stimme. »Ehrlich gesagt, habe
     ich versucht, ihre Lage zu bessern. Erst bin ich zum Pfarrer gegangen. Aber die geistlichen Herren! Keinen Finger hat er für
     das Mädchen gerührt. Nur keinen Unfrieden, war sein Leitspruch. Für die Schwachen ist er nicht eingestanden, der Gottesmann.«
     Sie bekreuzigte sich schnell. »Gott hab ihn selig. Er ist tot.«
    Achille nickte erneut.
    »Dann ist das Mädchen immer mehr abgemagert und hat kein Wort mehr gesprochen. Da habe ich in Chur bei der Behörde Meldung
     gemacht. Die haben Inspekteure, die die Verdingverhältnisse überprüfen können. Und tatsächlich, ich hätte es nicht geglaubt,
     sie wollten jemanden heraufschicken. Und genau an dem Tag, an dem sie kommen wollten, um zu sehen, wie Nika untergebracht
     war, ist sie davonge-laufen.«
    Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Und dabei wäre sie bald volljährig gewesen. Frei zu gehen, wohin sie wollte   …«
    »Aber gab denn Nikas Medaillon keinen Hinweis auf ihre Eltern?«, unterbrach Robustelli.
    »Keine Spur«, winkte die Frau ab. »Natürlich war ich neugierig, das können Sie sich ja denken. Wenn man plötzlich einen Säugling
     vor seiner Tür findet. Ich habe das Medaillon aufgemacht. Und der Pfarrer auch. Aber da war nur ein Zettel, ein Gekritzel,
     das ich nicht entziffern konnte. Auch der Pfarrer konnte nichts damit anfangen.«
    »Und trotzdem meinen Sie zu wissen, die Mutter sei eine Italienerin?«, fragte Achille Robustelli, dem klar wurde, dass er
     hier nichts Neues erfahren würde.
    »Dafür lege ich die Hand ins Feuer«, erwiderte die Wirtin.
    Achille Robustelli war müde. Nichts hatte sich geklärt. Er kehrte nach Maloja zurück. Andrinas Fragen, wo er gewesen sei,
     wich er aus. Und merkwürdigerweise hatte er ein schlechtes Gewissen dabei.
    ***
    »Seien Sie um zwei im Hotel Kursaal«, hatte Segantini über Fabrizio Bonin ausrichten lassen, und James hoffte inständig, dass
     der Weg zu dem im Freien aufgestellten Bild sich nicht zu einer regelrechten Wanderung auswachsen würde. Er freute sich, ein
     paar Stunden mit seinem neuen Freund Bonin zu verbringen, den er als Kollegen zur Situation der Zeitungen in Italien näher
     befragen wollte. Außerdem mied er seit seinem letzten Gespräch mit Mathilde Edwards Gesellschaft.
    Er hatte Mathilde nicht mehr besucht, sie aber durchaus nicht vergessen. Es war feige gewesen, von ihr ein Liebesbekenntnis
     zu verlangen, wo sie sich doch eines von ihm gewünscht hatte. Und trotzdem, er brachte sich einfach nicht dazu, ernsthaft
     um sie zu werben. Zu viele Zweifel – weniger an Mathilde als an sich und seiner eigenen Beständigkeit. Undnun Edward, der in die Bresche gesprungen war und sich dort erfolgreich zu etablieren schien.
    James war darüber gekränkt, auch wenn er das nicht zugab. War er von ihnen beiden nicht immer der erfolgreichere Eroberer
     gewesen?
     
    »Keine Sorge«, sagte Segantini lächelnd, nachdem er James von oben bis unten betrachtet und dessen nicht sehr bergtüchtige
     Bekleidung gemustert hatte, »das Bild, zu dem ich Sie führe, steht an einer gut zugänglichen Stelle außerhalb des Dorfes.
     Ich nenne es ›La Morte‹, ›Der Tod‹, und ich stelle es mir als Teil eines größeren Projekts vor.« Er schlug einen kräftigen
     Schritt an und ging Bonin und James voraus, der Passhöhe entgegen.
    James war zusammengezuckt, als Bonin ihm den Titel des Bildes übersetzt hatte. Gedanken an Tod und Trauer hatten ihm noch
     nie besonders gelegen. Ob er eigentlich den »toten Helden« kenne, den Segantini als junger Mann gemalt und mit seinen eigenen
     Zügen versehen hatte, fragte Fabrizio.
    James nickte.
    »Er hat das Motiv immer wieder aufgegriffen«, ergänzte Bonin nachdenklich, »und dem aufgebahrten Leichnam immer wieder sein
     eigenes Gesicht gegeben. Merkwürdig. Als ob ihm die Vorstellung seines eigenen Todes immer sehr nah gewesen wäre. Kennen Sie
     auch das Bild ›Rückkehr in die Heimat‹? Es war 1895 in Venedig ausgestellt, und ich fand es sehr eindrucksvoll. Auf einem
    

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