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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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ist, muss man sie ja nicht schlecht behandeln. Wenn du im Gastgewerbe bleiben
     willst, dann merk dir eins: Jeder Gast ist letztlich ein Fremder. Ein Hotel soll ihn freundlich empfangen und ihm ein vorübergehendes
     Zuhause bieten.«
    Andrina sah beleidigt aus. Aber es war klüger, nichts mehr zu sagen und Achille die Lösung dieses Problems allein zu überlassen.
    »Dann gehe ich jetzt«, sagte sie.
    »Ja, tu das«, antwortete er, noch immer verärgert.
    »Willst du keinen Kuss?«, prüfte sie noch einmal seine Laune.
    »Also komm schon her«, lächelte er versöhnlich, »natürlich will ich einen Kuss. Aber glaube nicht, dass ich darüber vergesse,
     was du gesagt hast.«
    ***
    Er hätte nicht zu sagen gewusst, warum er das tat. Als er um zwei Tage Ferien bat, um eine persönliche Angelegenheit zu regeln,
     hatte der Hoteldirektor selbstverständlich zugestimmt. Achille war das Pflichtbewusstsein in Person, und in all den Jahren,
     die er nun im Hotel Kursaal arbeitete, war er noch nicht einmal krank gewesen.
    »Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen«, sagte der Direktor und drückte ihm die Hand. »Das Hotel wird nicht zusammenbrechen,
     wenn Sie zwei Tage nicht da sind.«
    Achille hatte Andrina nicht anvertraut, was er vorhatte. Nicht einmal sich selbst legte er Rechenschaft ab, sondern beließ
     es dabei, dass er ein Mensch war, der sich gerne Klarheit über eine Situation verschaffte. Eine erfolgreiche Problemlösung,
     so hatte er schon im Militär gern gesagt, beruht auf einer guten Kenntnis der Ausgangssituation. Und die wollte er sich jetzt,
     was Nika betraf, verschaffen. Er redete sich ein, dass er ihr besser weiterhelfen könne, wenn er versuchte, mehr über ihre
     Vergangenheit zu erfahren, fürchtete sich aber vor dem Eingeständnis, dass irgendetwas in seinem eigenen Leben aus der Balance
     geraten war, und diese Unklarheit in seinem Inneren mit Nika zu tun hatte.
    Er bestieg in Silvaplana die Postkutsche über den Julier, fragte in Mulegns im Wirtshaus Löwen nach einem Zimmer, und die
     Löwenwirtin bediente ihn persönlich beim Abendessen. Als das Wirtshaus sich leerte, bat er sie an seinen Tisch.
    »Sie werden sich wundern, wenn ich Ihnen sage, warum ich hier bin«, eröffnete er den persönlichen Teil des Gesprächs.»Ich komme wegen Nika, dem Findelkind, das Sie vor vielen Jahren hier gefunden haben.«
    Die Posthalterin sah ihn überrascht an und musterte ihn gründlich. Wie kam dieser gut gekleidete Mann, den sie auf Mitte dreißig
     schätzte, dazu, Nika zu kennen? Mit einem gewissen Misstrauen erwiderte sie:
    »Was haben Sie denn mit Nika zu schaffen?«
    Achille lächelte. »Keine Sorge, ich bin nicht von der Polizei. Und ich bringe auch keine schlechten Nachrichten. Nika geht
     es gut.«
    Die Posthalterin strich sich die Hände an der Wirtsschürze ab. Sie sah den Fremden noch einmal prüfend an. Der Signore war
     ein stattlicher Mann, rundherum gut aussehend, und er wirkte vertrauenswürdig.
    »Wo ist sie?«, fragte sie deshalb. »Ich habe mir um sie Sorgen gemacht. Sie ist vor ein paar Monaten einfach weggelaufen.«
    »Sie wollte nach Italien   …«, nickte Robustelli.
    »Das dumme Kind!«, rief die Wirtin aus. »Diese fixe Idee hat sie sich schon vor Jahren in den Kopf gesetzt!«
    Robustelli legte der Wirtin die Hand auf den Arm, um ihre Ausrufe zu unterbrechen.
    »Beruhigen Sie sich. Sie ist in Maloja, eine Familie hat sie dort aufgenommen. Nika arbeitet in einem Hotel, in dem ich selbst
     angestellt bin.«
    Die Posthalterin sah ihn entgeistert an. »Sie arbeitet in einem Hotel? Nun ja, sie war immer wissbegierig, stellte die unmöglichsten
     Fragen, wollte unbedingt, dass ich ihr das Lesen beibringe.« Die Frau lächelte bei der Erinnerung daran, fuhr aber sogleich
     fort: »Sie hätte mir immerhin ein Lebenszeichen geben können! Man macht sich doch Sorgen.«
    Achille nickte. »Sie weiß nicht, dass ich hier bin, Signora. Sonst hätte sie mir sicher Grüße an Sie aufgetragen… Aberich habe den Eindruck, in der Familie, in der sie aufgewachsen ist, hat man sie weniger gut behandelt.«
    Die Wirtin sah Robustelli scharf an. »Was kümmert Sie das?«, fragte sie, erneut misstrauisch geworden.
    »Nika hat sich mir ein Stück weit anvertraut. Ich würde ihr gern bei der Suche nach ihren wirklichen Eltern helfen.«
    »Nun«, sagte die Frau vorsichtig, »die Familie des Bauern hat sie nicht auf Händen getragen. Aber was wollen Sie? Nika war
     ein Verdingkind, denen geht es allen

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