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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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Schnee nicht liegen geblieben, aber er war ein Vorbote des Herbstes wie die Herbstzeitlosen,
     deren blasses Rosa jetzt überall auf den Wiesen erschien. Noch war die Sonne warm, und es gab prächtige Tage, aber das Wetter
     war nicht mehr stabil, und kühle Tage, an denen der Himmel verschleiert war, mischten sich unter die Sommerhelle.
    Emma Schobinger hatte warme Wäsche und Kleider hinauf in die Klinik geschickt, und auch Edward, der ursprünglich Ende August
     abreisen wollte, hatte sich wärmere Sachen kommen lassen: Wollgamaschen und festen Tweed, ja selbst einen warmen Mantel. Er
     wollte nicht abreisen, bevor er nicht herausgefunden hatte, wie Mathilde über ihre Verlobung mit Adrian dachte, und ehe er,
     Edward, ihr seine Zuneigung gestanden und geklärt hatte, ob Hoffnung bestand, dass sie seine Gefühle eines Tages erwidern
     würde.
    James, der schon längst das Weite gesucht haben wollte, hatte sich von Fabrizio Bonin breitschlagen lassen, noch bis zu dem
     großen venezianischen Ball zu bleiben, den das Hotel Kursaal Maloja als Höhepunkt und gleichzeitig zum Ende der Saison veranstaltete.
     Danach wollten auch Primoli und Bonin weiterreisen.
    James hielt sich nun die meiste Zeit in Maloja auf. Widerstrebend beeindruckt von Segantini, der ihm in nichts glich, wollte
     er sich weitere Bilder ansehen, die der Maler in Arbeit hatte. Und er verbrachte, wann immer möglich, Stunden mit Bonin und
     Primoli, der nicht nur ein Meister der Fotografie, sondern auch ein glänzender Unterhalter war.
    James hatte die Aufnahmen von Segantini mit der praktischen, neu entwickelten Handkamera gemacht, aber er interessierte sich
     sehr für die spezielle Technik der Kunstfotografie, über die Primoli und Bonin so mitreißend sprachen.

Erkenntnisse und Bekenntnisse
    »Ich wollte dir etwas sagen.« Segantini strich sich über den zweispitzigen Vollbart, durchbohrte sie mit seinen Blicken.
    Nika sagte nichts, die Augen unergründlich wie der See.
    »Ich werde dieses Jahr schon früh nach Soglio gehen. Das Bergell ist im Winter der angenehmere Ort. Milder. Hier oben wird
     man unter dem Schnee begraben.«
    Nika schwieg noch immer. Er ging also fort. Bald. Er hätte auch sagen können: morgen. Oder: heute Abend.
    Ich werde ihn Wochen nicht sehen, dachte sie. Den ganzen Winter nicht. Ich werde ihn nie wiedersehen. Wer einmal geht, kommt
     nicht wieder, so war es doch. Ihre Mutter war gegangen und nicht wiedergekommen. Sie, Nika, war von Mulegns weggelaufen und
     würde nie mehr dorthin zurückkehren.
    »Wann gehen Sie fort?«, fragte sie.
    »Bald. Schon Ende September, denke ich. Es sieht nach einem frühen Wintereinbruch aus dieses Jahr. In Soglio kann ich besser
     draußen malen.« Zum ersten Mal hörte sie ihn bitter lachen. »Ich muss malen können, verstehst du? Ohne Bilder kein Geld. Ich
     habe mich nie einer Theorie, der Meinung von Kunstkritikern, der akademischen Arroganz gebeugt. Ich lebe lieber in der Einsamkeit
     dieser Berge als in den Salons von Mailand und Paris. Aber meine Familie muss essen, braucht Schuhe, Kleider, die Kinder eine
     gute Ausbildung. Selbst der Ofen will gefüttert werden, damit ich in seinen rotglühenden Mund schauen kann, wenn mich friert.«
    »Wann werden Sie wieder zurückkommen?«, fragte Nika.
    »Das hängt ganz vom Wetter und von der Arbeit ab. Vielleicht nach Ostern. Vielleicht später. Auch du wirst vielleicht weggehen
     müssen, wenn die Biancottis dich nicht mit durchfüttern. Im Winter ist das Hotel geschlossen.«
    Nika hörte nicht, was er sagte. Warum sollte sie ihm jetzt zuhören, wenn er nachher sowieso wegging?
    »Hörst du mir zu?«, fragte Segantini.
    Sie schien ganz und gar gleichgültig, schüttelte den Kopf.
    Er sah sie prüfend an.
    »Wirst du mich vermissen?«
    »Nein«, sagte sie und schüttelte wieder den Kopf.
    Er stand direkt vor ihr, so nah, dass sie das Gefühl hatte, nicht an ihm vorbeizukommen. Sie wollte weglaufen. Nahm alle Kraft
     zusammen, als wolle sie mit einem gewaltigen Satz über ihn hinwegspringen.
    Segantini fing sie in seinen Armen auf und hielt die schluchzende Nika fest.
    ***
    »Die Saison geht bald zu Ende«, sagte Achille Robustelli.
    »Ich weiß«, antwortete Andrina. Eben das machte ihr Sorgen. Sie waren nun schon einige Male beim Tanzen gewesen, und sie hatte
     Achille Robustellis Annäherungsversuche nach Kräften gefördert, ohne dass er ihr bisher einen Antrag gemacht hätte. Wohl hatte
     sie ihn dahin gebracht, ihr einige

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