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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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Mathilde an sich. »Schau dich an. Frag Dr.   Bernhard. Es geht dir schon viel besser. Du wirst hier oben in den Bergen eine starke junge Frau werden, eine ganz sportliche,
     bei den Spaziergängen, die du jeden Tag machst! Und bald wirst du wieder in Zürich sein. Adrian wird so oft herkommen, wie
     er kann, deine Eltern haben versprochen, dich zu besuchen. Du wirst nicht allein sein. Und Edward ist ja auch noch hier.«
    James erwähnte sie nicht. Und ihre Nichte schwieg sich aus über das Gespräch, das sie vor Adrians Besuch mit ihm gehabt hatte.
     Es schien, als habe James sich zurückgezogen, ob nun aus Einsicht oder aus mangelnder Liebe.
    »Ich möchte, dass du bald wiederkommst. Du wirst mir fehlen, Tante.«
    »Pssst«, Betsy legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Nicht davon sprechen. Wir sehen uns bald wieder.«
    Mathilde begleitete Betsy nicht zur Poststation. Ein schneller Abschied nach den ereignisreichen Wochen, die sie zusammen
     erlebt hatten, war ihr lieber.
    Betsy drehte sich mehrmals um und winkte, dann verschwand sie um eine Straßenecke. Der Rand ihres ausladenden Hutes war das
     Letzte, was Mathilde von ihr sah.
    Es würde einsam werden hier oben, wenn der Herbst kam. Aber Dr.   Bernhard hatte Mathilde versichert, dass der Oktober oft der schönste Monat des Jahres sei und dass das stille Rieseln der
     goldenen Lärchennadeln einen Goldregen wie im Märchen vor ihr Auge zaubern werde, eine Symphonie in Blau und Gold, wie sie
     sein Freund Segantini so unnachahmlich malen könne. Sie solle nur geduldig sein, sie würde schon noch in diesem Märchen umherspazieren.
    Mathilde lächelte. Noch war alles grün draußen, und bald würde Edward sie für einen Nachmittagsspaziergang abholen. Sie wollte
     ihn fragen, ob James nun auch abreise. Es wäre leichter, ihn nicht in der Nähe zu wissen.
    Es waren schon ganze Stunden, in denen sie nicht mehr an ihn dachte, ja manchmal halbe Tage, und wenn Edward bei ihr war,
     vergaß sie ihn ganz, obwohl die beiden doch Freunde waren und zusammengehörten. Sie hätte jeden in Gedanken geköpft, der vor
     wenigen Wochen behauptet hätte, dass sie eines Tages nicht mehr jede Minute des Tages an James denken würde. Und doch war
     es so gekommen. Ich bin wie alle andern, dachte sie beschämt, untreu und wankelmütig.
     
    »Danke, Edward«, sagte Betsy, »dass Sie sich so rührend um meine Nichte kümmern. Wenn es so weit ist, dass Sie abreisen, müssen
     Sie unbedingt in Zürich Station machen. Versprechen Sie das?«
    Edward war zur Poststation gekommen, um Betsy zu verabschieden. James hatte sich entschuldigen lassen. Er sei mit Segantini
     und Bonin unterwegs. Betsys Gepäck war verstaut.
    »Wir fahren«, rief der Kutscher.
    »Versprechen Sie, dass Sie vorbeikommen?«, fragte Betsy noch einmal.
    Edward nickte und küsste Betsy die Hand. »Ja, das verspreche ich. Gute Reise und alles Gute.«
    Betsy winkte ihm noch einmal zu. Sie hatte es Mathilde nicht merken lassen wollen, aber es war Zeit, dass sie ihr eigenes
     Leben und ihre Zukunft bedachte. Der Sommer in St. Moritz hatte einiges in ihr aufgewirbelt. Sie hatte die Trauer abgelegt,
     sich beinahe in denselben Mann verliebt wie ihre junge Nichte und hätte es eigentlich gern gesehen, wenn wenigstens Edward
     sich stärker um sie bemüht hätte. Er war ein sehr angenehmer Gesellschafter, sie hatten sich gut verstanden, und er hatte
     sie immer so behandelt, dass sie sich als Frau geschätzt und bewundert fühlte. Aber Edward hatte, trotz des schönen Abends
     im Hotel Palace, keine Anstalten gemacht, ihr näherzukommen. Betsy sah die Landschaft an sich vorbeigleiten, leicht verschwommen,
     denn Pferde und Kutsche wirbelten Staub auf. Etwas davon musste auch in das Innere des Wagens gedrungen sein. Betsy suchte
     nach einem Taschentuch und tupfte sich die Augenwinkel.
    Ganz jung war sie nicht mehr. Aber sie war auch nicht alt. Sie hatte es genossen, wieder etwas zu unternehmen, Farben zu tragen,
     mit Männern Umgang zu haben, sich hübsch zu fühlen, zu flirten.
    In Zürich würde sie zunächst ihr Haus verschönern lassen, den Garten und ihre Garderobe und dann darüber nachdenken, ob sie
     ihr weiteres Leben in den Dienst der Wohltätigkeit und der Einführung der Witwen- und Waisenrente stellen wollte. Aber eigentlich,
     dachte sie, während das Engadin hinter ihr zurückblieb, war sie für die Wohltätigkeit vielleicht doch noch ein bisschen zu
     jung.
    ***
    Die Luft war kühl. Zwar war der frühe erste

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