Bildnis eines Mädchens
sie vor Signore Robustellis Büro stand, fragte sie sich, warum sie nicht Segantini um Hilfe bat. Er kannte doch so viele
Leute. Aber der Gedanke war ihr gar nicht gekommen. Und jetzt stand sie vor einer anderen Tür.
Achille Robustelli war nicht in der besten Laune. Er hatte einen Brief von seiner Mutter erhalten, in dem sie ihm einen Besuch
in Maloja ankündigte. Sie wollte endlich den Ort in Augenschein nehmen, wo ihr Sohn nun schon seit Jahren arbeitete. Er faltete
den Brief sorgsam wieder zusammen, in den Falten, die seine Mutter dem Papier aufgezwungen hatte, und war nicht erfreut, als
es an seiner Tür klopfte.
»Herein«, rief er mit einer Stimme, die nicht sehr einladend klang. Am wenigsten hätte er Nika erwartet, die in der Türe stand.
»Nun, was gibt es?«, fragte er knapp.
Nika war verwirrt, weil er sonst immer so freundlich war, und sagte nur ungeschickt: »Es schneit.«
»Das habe ich gesehen«, erwiderte Robustelli ungnädig.
»Signore Robustelli, entschuldigen Sie. Ich habe eine Bitte. Ich wohne bei den Biancottis im Stall. Es wird zu kalt dort.
Im Haus ist kein Platz, sie würden mich sonst dort schlafen lassen. Ich brauche irgendwo eine Unterkunft, bis ich Arbeit für
den Winter gefunden habe.«
Überrascht sah Robustelli sie an. »Setz dich, Nika«, sagte er. Sie konnte ja nichts für seinen Ärger.
»Nun einmal langsam. Im Stall ist es zu kalt. Bei Biancottis im Haus ist kein Platz. Die Saison ist aber noch nicht zu Ende.«
Er dachte nach. »Das heißt«, er drehte an seinem Ring, als helfe ihm das, eine Lösung zu finden, »du musst für die nächsten
Wochen im Hotel untergebracht werden. Ich mussdas erst klären, aber ich werde dir sagen, wenn ich einen Platz gefunden habe.«
Erstaunlich, dass sie zu ihm kam. Offenbar hatte sie Vertrauen zu ihm gefasst. Eigentlich könnte sich ja auch Segantini mal
um solche zwar alltäglichen, aber lebensnotwendigen Dinge kümmern, wenn ihm schon so viel an dieser Frau lag. »Warum willst
du eigentlich nicht nach Mulegns zurück? Du hast mir gesagt, dass du deine Mutter suchen willst. Das ist zwar schön und gut,
aber du weißt ja nicht, wo du mit der Suche überhaupt anfangen sollst. Gibt es niemanden in Mulegns, der dir helfen könnte?
Der Pfarrer? Vielleicht sogar die Familie des Bauern, wo du aufgewachsen bist?«
Nika sah ihn verwundert an. An was er alles dachte. »Ich kann nicht zurück. Ich habe das Medaillon heimlich aus der Truhe
genommen und bin weggelaufen, als die Bäuerin dabei war, es zu entdecken. Ich will nicht mehr dorthin zurück.«
»Aber das Medaillon gehört ja dir. Das ist kein Diebstahl. Du hast nichts zu befürchten.«
Sie schwieg. Er wusste gar nichts. Segantini wusste, ohne zu fragen.
»Also«, fragte Robustelli noch einmal nach, »gibt es niemanden, der gut zu dir war?«
»Doch.« Nika nickte und lächelte bei der Erinnerung. »Die Posthalterin. Sie war immer freundlich. Sie hat mir sogar das Lesen
beigebracht. Manchmal bin ich zu ihr gelaufen, und sie hat mich nie verraten.«
»Und sie würde dir nicht helfen?«
»Ich will nicht zurück«, antwortete Nika heftig.
***
»Hör zu, Andrina«, sagte Robustelli. »Nika kann nicht mehr im Stall schlafen, es wird langsam kalt. Im Haus deiner Elternist kein Platz, ich werde sie für den Rest der Saison im Hotel unterbringen müssen. Nun dachte ich mir, ihr kennt euch doch.
Vielleicht willst du mit ihr das Zimmer teilen, und ich bringe das Mädchen, das jetzt mit dir zusammenwohnt, woanders unter?
Wenn ich keine andere Lösung finde, müsstet ihr vielleicht für kurze Zeit zu dritt im Zimmer schlafen.«
»Auf gar keinen Fall«, protestierte Andrina. »Ich komme sehr gut mit Clara aus. Ich will nicht, dass sie woanders hinkommt.
Und für drei ist kein Platz. Nicht in unserem Zimmer. Unmöglich. Ich sehe überhaupt nicht ein, warum die Straniera im Hotel
wohnen soll, und noch dazu oben unter dem Dach.« Andrina empfand es noch immer als Privileg, so hoch oben zu logieren.
Achille Robustelli ahnte weitere Schwierigkeiten voraus. Er sehnte sich nach seiner wöchentlichen Bridge-Partie, aber bis
dahin waren es noch Stunden.
»Tesoro, sei doch vernünftig. Wo soll sie denn schlafen?«
»Vielleicht im Bett von Signore Segantini?«, gab Andrina patzig zurück.
»Das reicht!« Achilles Sanftmut war aufgebraucht. »So ein Unsinn. Also, du willst sie nicht im Zimmer haben. Schade. Sie hat
niemandem etwas getan. Nur weil sie eine Fremde
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