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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dörthe Binkert
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bevor sie sich in seine Arme
     stürzte oder er sie festgehalten hatte, weil sie davonlaufen wollte. Warum kam ausgerechnet diese Szene ihm jetzt in den Sinn?
     Er hatte sich geschämt, dass er nicht weggesehen hatte, dass er intuitiv immer zur Stelle war, wenn Segantini Nika aufsuchte.
     Wie unpassend das doch war.
    Achille schob Andrina von seinem Schoß.
    »Du musst die Tür wieder aufschließen, Andrinetta«, sagte er sanft. »Und noch etwas. Ich habe Nika im Zimmer neben deinem
     unterbringen können. Die gute Seraina musste vorzeitig die Saison abbrechen. Ihre Mutter ist gestorben. Sie wird zu Hause
     gebraucht. Es sind viele kleine Geschwister da.«
    Andrina spürte, wie der Zorn in ihr aufwallte. »Dann hat sie ein Zimmer für sich, während ich eines teilen muss?«, fragte
     sie gefährlich ruhig, während die Wut wuchs und Röte ihr ins Gesicht stieg.
    »Aber Andrina, beruhige dich. Es ist ja nur für ein paar Wochen. Ich bin froh, dass ich eine Lösung gefunden habe. Ich verstehe
     gar nicht, warum du so reagierst.«
    »Das kann ich dir erklären«, gab sie heftig zurück und stampfte mit dem Fuß auf. »Diese hergelaufene Straniera, dieses Nichts
     von einer Person kriegt einfach alles. Erregt Mitleid. Nistet sich bei uns zu Hause ein, isst an unserem Tisch, wird von Segantini
     hofiert, dem die Hexe den Kopf verdreht hatwie meinem armen Bruder Gian. Und du«, sie holte tief Luft, »lässt sie nicht länger in der Waschküche arbeiten, nein, sie
     darf in den Garten, damit sie frische Luft hat und sich jetzt als Prinzessin in ein Daunenbett legen kann. Und darüber soll
     ich mich nicht aufregen? Dann schenk doch ihr den Diamantring, den du gerade mir versprochen hast!«
    Achille Robustelli sah sie entgeistert an. »Was sagst du?«
    »Ich sage, dann nimm doch sie!«, schrie Andrina, drehte sich auf dem Absatz um, schloss die Tür auf und warf sie krachend
     hinter sich ins Schloss.
    ***
    »Edward«, rief Mathilde aus, »so hab ich Sie ja noch nie gesehen! Warme Schirmmütze, Wollgamaschen. Was haben Sie vor?«
    Edward nahm lächelnd die Mütze ab. »Ich richte mich auf harte Zeiten ein. Das Wetter gibt heute einen Vorgeschmack darauf.
     Haben Sie schon mal hinausgesehen?«
    Mathilde lachte. »Nein, man sieht ja nichts bei dem Nebel!«
    »Sie hätten die Ursuppe sehen sollen, aus der ich gerade komme.«
    »Von wo kommen Sie denn?« Sie sah ihn neugierig an. Er hatte immer etwas zu erzählen, das die Langeweile des Sanatoriumalltags
     vertrieb.
    »Ich wollte einen entfernten Freund aus London treffen, der in Pontresina abgestiegen ist«, sagte Edward. »Seine Familie verbringt
     dort den Sommer, und er telegrafierte, dass er sie für ein paar Tage besuche.«
    London. Plötzlich sah Mathilde einen Salon vor sich, ja, so musste es in einem wohlhabenden Haus im West End aussehen. Sie
     selbst war unter den Gästen, gesund und strahlend, wenn auch schüchtern, beschämt über ihr Englisch, das ganznach höherer Töchterschule klang. Edward forderte sie zum Tanzen auf, aber es war, als sei es nicht das erste Mal. Nein, sie
     waren so vertraut miteinander, sie lag so selbstverständlich in seinem Arm   …
    »Eigentlich wollte ich nach Pontresina laufen«, erzählte Edward, »aber bei dem Wetter habe ich doch einen Wagen genommen.
     Schon hier war der See vom Wind grau aufgeraut, aber der See war noch der See und die Wolken die Wolken. Je weiter wir aber
     kamen, umso mehr floss alles ineinander. Dann nur noch Wolken«, fuhr Edward fort, »wir fuhren geradewegs in das Nichts hinein.«
    Mathilde rückte näher an ihn heran.
    »Dann sind Sie heute wirklich richtig gekleidet«, sagte sie. »Aber was meinen Sie mit dem Satz, Sie richten sich auf harte
     Zeiten ein?«
    Edward zögerte. »Ich habe mir vorgenommen«, setzte er vorsichtig an, »so lange hierzubleiben, und wenn es der ganze Winter
     wäre, bis ich von Ihnen weiß, wie Sie sich entscheiden werden   …«
    »Wie, mich entscheiden?«, fragte Mathilde. »Entscheiden wofür? Es gibt nichts zu entscheiden. Ich werde einfach noch sehr
     lange hier oben bleiben müssen, auch wenn Dr.   Bernhard glaubt, dass ich wieder gesund werde.«
    »Sie werden gesund werden. Ich weiß es. Ich will es.«
    Sie lachte laut auf. »Aber Edward. Was heißt das: Sie wollen es? Ob wir sterben oder leben liegt nicht in unserer Hand. Schon
     gar nicht bei einer solchen Krankheit.«
    »Vielleicht wollen Sie mich nicht verstehen. Sie sind verlobt. Ihr Verlobter war hier. Er wird Sie

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