Billard Um Halb Zehn: Roman
Gelegenheit haben wird, von unseren Rücksichten drüben zu erzählen - jetzt kann ich Ihnen gestehen, daß unser Kommandeur eher eine Verzögerung des Vormarsches um zwei, drei Tage in Kauf genommen hätte, als die Abtei auch nur anzutasten. Warum haben Sie die Abtei in die Luft gejagt, obwohl es doch taktisch und strategisch so
offensichtlich keinen Sinn hatte? Sie haben unseren Vormarsch nicht etwa behindert, sondern beschleunigt. Rauchen Sie?‹
›Ja, danke.‹
Die Zigarette schmeckte, Virginia, würzig-kräftig.
›Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Bitte, sagen Sie doch etwas; ich sehe, daß wir fast gleichaltrig sind; Sie sind neunundzwanzig, ich siebenundzwanzig. Können Sie nicht begreifen, daß ich Sie verstehen möchte? Oder fürchten Sie die Folgen einer Aussage - Folgen bei uns oder bei Ihren Landsleuten?‹
Aber wenn er es aussprechen würde, stimmte es nicht mehr; aktenkundig gemacht wäre es am wenigsten wahr: daß er auf diesen Augenblick fünfeinhalb Kriegsjahre gewartet hatte, auf den Augenblick, da die Abtei wie ein Gottesgeschenk als seine Beute dalag; ein Denkmal aus Staub und Trümmern wollte er denen setzen, die keine kulturgeschichtlichen Denkmäler gewesen waren und die man nicht hatte schonen müssen: Edith, von einem Bombensplitter getötet; Ferdi, ein Attentäter, rechtskräftig verurteilt; der Junge, der die winzigen Papiere mit seinen Botschaften in den Briefkasten geworfen hatte; Schrellas Vater, der verschwunden war; Schrella selbst, der so fern von dem Land leben mußte, in dem Hölderlin gelebt hatte; Groll, der Kellner im Anker, und die vielen, die hinausgezogen waren, singend: Es zittern die morschen Knochen; niemand würde für sie um Rechenschaft gefragt werden, niemand hatte sie etwas Besseres gelehrt; Dynamit, ein paar Formeln, das war seine Möglichkeit, Denkmäler zu setzen; und einen Sprengtrupp hatte er, der seiner Präzisionsarbeit wegen berühmt war: Schrit, Hochbret, Kanders. ›Wir wissen genau, daß Sie Ihren Vorgesetzten, General Otto Kösters, nicht ernst nehmen konnten; unsere Heerespsychiater haben einmütig - und wenn Sie wüßten, wie schwer es ist, unter amerikanischen Heerespsychiatern Einmütigkeit herzustellen -, sie haben ihn
erklärt, und so fällt die Verantwortung auf Sie, Herr Hauptmann, da Sie eindeutig nicht verrückt und - ich will Ihnen das verraten
durch die Aussagen Ihrer Kameraden stark belastet sind. Ich
will Ihnen gar nicht die Frage nach Ihrer politischen Anschauung stellen: die Unschuldsbeteuerungen sind mir schon zu geläufig und offen gestanden auch zu langweilig. Ich habe schon zu meinen Kameraden gesagt, wir werden in diesem schönen Land nur fünf oder sechs, wenn's hochkommt neun Schuldige finden und uns fragen müssen, gegen wen wir diesen Krieg geführt haben: gegen lauter einsichtige, nette, intelligente, sogar kultivierte Menschen - bitte, beantworten Sie doch meine Frage! Warum, warum haben Sie es getan?‹
Auf dem Platz des amerikanischen Offiziers saß jetzt das junge Mädchen, aß seine Frikadelle, nippte am Bier, kicherte; am Horizont konnte er den dunkelgrauen, schlanken Turm von Sankt Severin sehen, unversehrt.
Sollte er sagen, daß er den Respekt vor kulturgeschichtlichen Denkmälern so rührend fände wie den Irrtum, anstatt lauter netten, einsichtigen Leuten Bestien zu erwarten? Ein Denkmal für Edith und Ferdi, für Schrella und dessen Vater, für Groll und den Jungen, der seine Papierchen in den Briefkasten geworfen, für den Polen Anton, der gegen Wakiera die Hand erhoben hatte und deshalb ermordet worden war, und für die vielen, die Es zittern die morschen Knochen gesungen hatten, nichts Besseres war ihnen beigebracht worden; ein Denkmal für die Lämmer, die niemand geweidet hatte.
Wenn sie den Zug noch erwischen wollte, mußte seine Tochter Ruth jetzt am Portal von Sankt Severin vorbei zum Bahnhof laufen; mit ihrer grünen Mütze auf dem dunklen Haar, in ihrem rosaroten Pullover, erhitzt, glücklich, Vater, Bruder und Großvater zu treffen; Nachmittagskaffee in Sankt Anton vor der großen Geburtstagsfeier am Abend. Vater stand draußen im Schatten vor der Tafel und studierte die Abfahrtszeiten; gerötet
das schmale Gesicht, liebenswürdig der alte, großzügig und
freundlich, der hatte nie vom Sakrament des Büffels gekostet, war mit dem Altern nicht bitter geworden; wußte er alles? Oder würde er es noch erfahren? Und sein Sohn Joseph, wie würde er es dem je erklären können? Schweigen war
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