Billard Um Halb Zehn: Roman
wir mußten zusehen, wie sie das gute Zeug an fremde Leute verschenkte, Brot, Butter und Honig, aus dem Kloster und von den Gütern; wir mußten Kunsthonig essen.«
»Du hast sie nicht gehaßt, deine Großmutter?«
»Nein, und ich weiß selbst nicht, warum ich sie wegen dieses Unsinns nicht haßte; vielleicht weil Großvater uns mit in sein Atelier nahm, uns heimlich gute Sachen gab; er nahm uns auch mit ins Cafe Kroner und stopfte uns voll; er sagte immer: ›Was Mutter und Großmutter tun, ist groß, sehr groß - aber ich weiß nicht, ob ihr schon groß genug für diese Größe seid.‹«
»Hat er das wirklich gesagt?«
»Ja«, Joseph lachte, »als Mutter tot war und Großmutter weggebracht wurde, waren wir mit Großvater allein, und wir hatten genug zu essen; die letzten Kriegsjahre waren wir fast immer in Stehlingen; ich hörte, wie sie in der Nacht die Abtei sprengten, wir hockten in Stehlingen in der Küche, und die Bauern aus der Nachbarschaft fluchten auf den deutschen General, der den Sprengbefehl gegeben hatte, und sie murmelten vor sich hin: wozuwozuwozu? Ein paar Tage später besuchte mein Vater mich, er kam in einem amerikanischen Auto, von einem amerikanischen Offizier begleitet, und dur fte drei Stunden bei uns bleiben; er brachte uns Schokolade mit, und wir waren erschrocken vor dem klebrigen, dunkelbraunen Zeug, das wir noch nie gegessen hatten, aßen es erst, als auch Frau Kloschgrabe, die Frau des Verwalters, davon aß; Vater brachte Frau Kloschgrabe Kaffee mit, und sie sagte zu ihm: ›Sie brauchen keine Angst zu haben, Herr Doktor, wir geben auf die Kinder acht, als ob es unsere eigenen wären‹, und sie sagte: ›Ist
in die Luft gejagt haben?‹, und er sagte: ›Ja, es ist eine Schande, aber vielleicht war es der Wille Gottes‹, und Frau Kloschgrabe sagte: ›Es gibt auch solche, die den Willen des Teufels tun‹; Vater lachte, und auch der amerikanische Offizier lachte; Vater war lieb zu uns, und ich sah ihn zum ersten Mal weinen, als er wieder wegmußte; ich hatte nicht geglaubt, daß er weinen könnte; er war immer still gewesen und hatte keine Gefühle gezeigt; auch, wenn er aus dem Urlaub zurückfahren mußte und wir ihn zum Bahnhof brachten, weinte er nie; wir weinten alle, Mutter und Großmutter, Großvater und wir, aber er nicht - da«, sagte Joseph, und zeigte auf die Rauchfahne des Zuges, »eben sind sie in Kisslingen angekommen.«
»Jetzt wird er ins Kloster hinübergehen und erfahren, was du ihm eigentlich selbst sagen müßtest.«
Ich wusch die Kreidezeichen ab zwischen Sankt Johanns und Peters Fuß und das kleine x im Keller des Gästehauses; er wird es nicht finden, nie entdecken, von mir nicht erfahren.
»Drei Tage lang«, sagte er, »verlief die Front zwischen Denklingen und der Stadt, und wir beteten abends mit Frau Kloschgrabe um Großvaters Gesundheit; dann kam er abends aus der Stadt, er war blaß und traurig, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, er ging mit uns durch die Trümmer der Abtei, murmelte, was auch die Bauern gemurmelt, was Großmutter immer im Luftschutzkeller gemurmelt hatte: wozuwozuwozu?«
»Wie glücklich muß er da sein, daß du beim Aufbau der Abtei hilfst.«
»Ja«, sagte Joseph, »ich kann ihm dieses Glück nicht erhalten; frag nicht, warum, ich kann nicht.«
Er küßte sie, strich ihr die Haare hinters Ohr, kämmte mit gespreizten Fingern Fichtennadeln und Sandkörner heraus.
»Vater kam früh aus der Gefangenschaft und holte uns in die Stadt, obwohl Großvater protestierte und sagte, es wäre besser für uns, nicht in den Trümmern aufzuwachsen, aber Vater sagte:
›Ich kann auf dem Land nicht leben, und ich will jetzt die Kinder bei mir haben, ich kenne sie ja kaum.‹ Wir kannten ihn auch nicht und hatten zuerst Angst vor ihm, und wir spürten, daß auch Großvater Angst vor ihm hatte. Wir wohnten damals alle in Großvaters Atelier, weil unser Haus nicht bewohnbar war, und an der Wand im Atelier hing ein riesiger Stadtplan; alles, was zerstört war, war mit dicker schwarzer Kreide gekennzeichnet, und wir hörten oft zu, wenn wir an Großvaters Zeichentisch Schularbeiten machten und Vater mit Großvater und anderen Männern vor der Karte stand. Es gab oft Streit, denn Vater sagte immer: ›Weg damit - sprengen‹, und zeichnete ein X neben einen schwarzen Klecks, und die anderen sagten immer: ›Um Gottes willen, das können wir doch nicht tun‹, und Vater sagte:
›Tun Sie's, bevor die Leute in die Stadt zurückkommen. - Jetzt ist
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