Billard Um Halb Zehn: Roman
gemacht haben, willst du es wirklich wissen? Sie haben mit Bomben auf mich geworfen und mich nicht getroffen, obwohl die Bomben so groß waren und ich so klein; die Leute im Luftschutzkeller steckten mir Leckerbissen in den Mund; und die Bomben fielen und trafen mich nicht, ich hörte nur, wie sie explodierten und die Splitter durch die Nacht rauscht en wie flatternde Vögel, und jemand sang im Luftschutzkeller Wildgänse rauschen durch die Nacht. Mein Vater war groß, sehr dunkel und schön, er trug eine braune Uniform mit viel Gold daran, eine Art Schwert am Gürtel, das silbern glänzte; er schoß sich eine Kugel in den Mund, und ich weiß nicht, ob du schon mal einen gesehen hast, der sich eine Kugel in den Mund geschossen hat? Nein, nicht wahr; dann danke Gott, daß dir der Anblick erspart geblieben
ist. Er lag da auf dem Teppich, Blut floß über die türkischen Farben, übers Smyrnamuster - echt Smyrna, mein Lieber; meine Mutter aber war blond und groß und trug eine blaue Uniform, und einen hübschen schnittigen Hut trug sie, kein Schwert an der Hüfte; und ich hatte einen kleinen Bruder, er war viel kleiner als ich und blond, und der kleine Bruder hing über der Tür mit einer Hanfschlinge um den Hals, baumelte, und ich lachte, lachte noch, als meine Mutter auch mir eine Hanfschlinge um den Hals legte und vor sich hinmurmelte: Er hat es befohlen, aber da kam ein Mann herein, ohne Uniform, ohne Goldborte und ohne Schwert, er hatte nur eine Pistole in der Hand, die richtete er auf meine Mutter, riß mich aus ihrer Hand, und ich weinte, weil ich doch die Hanfschlinge schon um den Hals hatte und das Spiel spielen wollte, das mein kleiner Bruder da oben spielen durfte, das Spiel: Er hat es befohlen, doch der Mann hielt mir den Mund zu, trug mich die Treppe hinunter, nahm mir die Schlinge vom Hals, hob mich auf einen Lastwagen... «
Joseph versuchte, ihre Hände von seinen Augen zu nehmen, aber sie hielt sie fest und fragte: »Willst du nicht weiterhören?«
»Ja«, sagte er.
»Dann mußt du dir die Augen zuhalten lassen, und eine Zigarette kannst du mir geben.«
»Hier im Wald?«
»Ja, hier im Wald.«
»Nimm sie aus meiner Hemdtasche.«
Er spürte, wie sie seine Hemdtasche aufknöpfte, Zigaretten und Streichhölzer herausnahm, während sie mit der rechten Hand seine Augen fest zuhielt.
»Ich steck dir auch eine an«, sagte sie, »hier im Wald. - Ich war um diese Zeit genau fünf Jahre alt und so süß, daß sie mich sogar auf dem Lastwagen verwöhnten, sie steckten mir Leckerbissen in den Mund, wuschen mich mit Seife, wenn der
Wagen hielt; und man schoß mit Kanonen auf uns und mit
Maschinengewehren und traf uns nicht; wir fuhren lange, ich weiß nicht genau, wie lange, doch sicher zwei Wochen, und wenn wir hielten, nahm der Mann, der das Spiel Er hat es befohlen verhindert hatte, mich zu sich, hüllte mich in eine Decke, legte mich neben sich, ins Heu, ins Stroh, und manchmal ins Bett und sagte: ›Sag mal Vater zu mir‹, ich konnte nicht Vater sagen, hatte zu dem Mann in der schönen Uniform immer nur Pappi gesagt, aber ich lernte es sagen: ›Vater‹, ich sagte es dreizehn Jahre lang zu dem Mann, der das Spiel verhindert hatte; ich bekam ein Bett, eine Decke und eine Mutter, die war streng und liebte mich, und ich wohnte neun Jahre lang in einem sauberen Haus; als ich in die Schule kam, da sagte der Pfarrer:
›Sieh mal einer an, was wir da haben, da haben wir ja ein ganz
unverfälschtes, waschechtes Heidenkindchen‹, und die anderen Kinder, die alle keine Heidenkinder waren, lachten, und der Pfarrer sagte: ›Da wollen wir aber aus unserem Heidenkind mal rasch ein Christenkindchen machen, aus unserem braven Lämmchen‹; und sie machten aus mir ein Christenkindchen. Und das Lämmchen war brav und glücklich, spielte Ringelreihen und Hüpfen, dann spielte es Völkerball und Seilchenspringen und liebte seine Eltern sehr; und es kam der Tag, da wurden in der Schule ein paar Tränen geweint, ein paar Reden gehalten, wurde ein paarmal was von Lebensabschnitt gesagt, und Lämmchen kam in die Lehre zu einer Schneiderin, es lernte Nadel und Faden gut gebrauchen, lernte bei seiner Mutter putzen und backen und kochen, und alle Leute im Dorf sagten: ›Die wird noch einmal einen Prinzen heiraten, unter einem Prinzen tut die's nicht‹ - aber es kam eines Tages ein sehr großes, sehr schwarzes Auto ins Dorf gefahren, und ein bärtiger Mann, der das Auto steuerte, hielt auf dem Dorfplatz und fragte aus dem
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