Billard Um Halb Zehn: Roman
hätte wie du, ich würde alles für ihn tun.«
»Und für meinen Vater?« fragte er.
»Ich kenne ihn noch nicht«, sagte sie, »komm. Und drück dich nicht, sag's ihm, sobald du Gelegenheit dazu hast. Komm.«
Sie zog ihn hoch, und er legte den Arm um ihre Schulter, als sie zum Auto zurückgingen.
9
Der junge Bankbeamte blickte mitleidig auf, als Schrella seine fünf englischen Schillinge und dreißig belgischen Franken über die Marmortheke schob.
»Ist das alles?«
»Ja«, sagte Schrella, »das ist alles.«
Der junge Beamte setzte seine Rechenmaschine in Bewegung, drehte mißmutig die Kurbel - die geringe Anzahl der Umdrehungen drückte schon Verachtung aus -, schrieb flüchtig ein paar Zahlen auf einen Zettel, schob Schrella ein Fünfmarkstück, vier Groschenmünzen und drei Pfennige über die Theke.
»Der Nächste, bitte.«
»Nach Blessenfeld«, fragte Schrella leise, »können Sie mir sagen, ob dorthin immer noch die Elf fährt?«
»Ob die Elf nach Blessenfeld fährt? Ich bin nicht die Straßenbahnauskunft«, sagte der junge Beamte, »und außerdem weiß ich es wirklich nicht.«
»Danke«, sagte Schrella, ließ das Geld in seine Tasche gleit en, machte den Platz am Schalter frei für einen Mann, der einen Packen Schweizer Frankenscheine über die Theke schob; Schrella hörte noch, wie sich die Kurbel der Rechenmaschine respektvoll zu vielen Drehungen in Bewegung setzte.
›Höflichkeit ist doch die sicherste Form der Verachtung‹, dachte er.
Bahnhofshalle. Sommer. Sonne. Heiterkeit. Wochenende. Hotelpagen schleppten Koffer auf Bahnsteige; eine junge Frau hielt ein Schild hoch: ›Reisende nach Lourdes hier sammeln.‹ Zeitungsverkäufer, Blumenstände. Juge ndliche mit bunten Badetüchern unterm Arm.
Schrella ging über den Vorplatz, blieb auf der Verkehrsinsel stehen und studierte die Abfahrtstafel; die Elf fuhr immer noch nach Blessenfeld; dort stand sie, am roten Verkehrslicht zwischen Hotel Prinz Heinrich und dem Chor von Sankt Severin, fuhr an, hielt, leerte sich, und Schrella reihte sich der Schlange der Wartenden ein, die vorn an der Schleuse zu zahlen hatten; er setzte sich, nahm den Hut ab, wischte den Schweiß von den Augenbrauen, trocknete die Brillengläser und wartete, als die Bahn abfuhr, vergeblich auf Gefühle; nichts; als Schuljunge viertausendmal mit der Elf hin- und zurückgefahren; tintenfleckige Finger, das alberne Geschwätz der mitfahrenden Schüler, das ihm immer auf eine schreckliche Weise peinlich gewesen war; Kugelschnitte, Plusquamperfekt, Irrealis, Barbarossas Bart, der immer noch durch den Tisch wuchs; Kabale und Liebe, Livius, Ovid, in grüngraue Pappe gebunden, und je weiter sich die Bahn aus der Stadt entfernte, auf Blessenfeld zu, desto kleinlauter wurde das Geschwätz; schon am Rand der Altstadt stiegen die aus, die ihren Stimmen das sicherste Bildungstimbre zu geben wußten, verteilten sich in breite, dunkle Straßen, in denen solide Häuser standen; am Rande der Neustadt stiegen die aus, deren Stimmen das nächstniedrige Bildungstimbre hatten, verteilten sich in engere Straßen, wo weniger solide Häuser standen; es blieben nur noch zwei oder drei, die bis Blessenfeld mitfuhren, wo die am wenigsten soliden Häuser standen; das Gespräch normalisierte sich, während die Bahn an Schrebergärten und Kiesgruben vorüber auf Blessenfeld zuschaukelte. ›Streikt dein Vater auch? Bei Gressigmann geben sie jetzt schon viereinhalb Prozent Rabatt; die Margarine ist um fünf Pfennig billiger geworden.‹ Der Park, wo das sommerliche Grün längst zertrampelt war, wo ums Planschbecken herum der sandige Boden von Tausenden von Kinderfüßen aufgewühlt war, mit Dreck, Papier und Flaschenscherben vermengt; die Gruffelstraße, wo die Lager der Altwarenhändler sich immer mit Blech und Lumpen, Papier und
Flaschen auffüllten, sich in kümmerlicher Armut eine Limonadenbude auftat, in der ein magerer Arbeitsloser sich als Händler versuchte, binnen kurzem fett wurde, sein Bude mit Glas und Chrom auftakelte, blitzende Automaten aufstellte; fraß sich an Pfennigen dick, wurde herrisch und hatte doch vor ein paar Monaten noch untertänig den Preis für eine Limonade notfalls um zwei Pfennig gesenkt, ängstlich flüsternd: ›Sag's nur nicht weiter.‹
Die Gefühle kamen nicht, während er in der Elf durch die Altstadt, die Neustadt, an Schrebergärten und Kiesgruben vorbei auf Blessenfeld zuschaukelte: viertausendmal gehört die Namen der Stationen: Boissereestraße, Nordpark,
Weitere Kostenlose Bücher