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Billard um halbzehn

Billard um halbzehn

Titel: Billard um halbzehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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entdeckte? Aussatz ist heilbar, heilbar an den Ufern des Lago Maggiore, in den Gärten von Minusio; sogar der Aussatz biederer Bauunternehmer, die romanische Kirchen zum Abbruch kauften, inklusive des respektiven Inventars, mit alten Madonnen, Kirchenbänken; die mit dem respektiven Inventar die Salons der Neu- und
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    Altreichen schmückten? Beichtstühle, in denen dreihundert Jahre lang demütige Bauern ihre Sünden geflüstert hatten, in die Salons von Kokotten verkauften? Aussatz ist heilbar in Jagdhütten und in Bad Ems.
    Die todernsten Gesichter der Gekränkten wurden starr, als sich die Tür zum Sitzungszimmer öffnete: ein schwarzer Umriß wurde sichtbar, bekam Kontur, Farbe; das erste Jurymitglied trat in den Flur; Hubrich, Professor für Kunstgeschichte an der theologischen Fakultät; nur über meine Leiche; sein schwarzer Tuchrock wirkte in dieser Beleuchtung wie der Tuchrock eines rembrandtgemalten Ratsherren; Hubrich ging auf das Tablett zu, nahm ein Cognacglas, ich hörte ein tiefes Seufzen aus seiner Brust; an den drei Gekränkten vorbei, die auf ihn zuzulaufen versuchten, entfernte er sich auf das Ende des Flures zu; die Strenge des Priestergewandes war bei ihm durch einen weißen Schal abgemildert, die hellen, kindlich bis über den Kragen herabfallenden Locken erhöhten den Eindruck, den
    hervorzurufen Hubrich bemüht war; er sah wie ein Künstler aus.
    Mit dem Schnitzmesser über einem Holzblock, mit zartem goldgetränktem Pinsel hätte man sich ihn vorstellen können, demütig am Werk, Madonnenhaar zu malen, Prophetenbärte, oder dem Hündlein des Tobias einen neckischen Kringel an den Schweif zu hängen. Leise glitten Hubrichs Füße über das Linoleum, müde winkte er den Gekränkten ab, ging in die Dunkelheit des Flures auf Rembrandt und van Dyck zu: auf diesen schmalen Schultern also ruhte die Verantwortung für die Kirchen, Krankenhäuser, Heime, in denen nach hundert Jahren noch Nonnen und Witwen, Waisen und Kassenpatienten, Schwererziehbare und gefallene Mädchen die Küchengerüche verstorbener Generationen würden erdulden müssen; dunkle Flure, trostlose Rückfronten, die durch dumpfe Mosaike noch trostloser wurden, als im Plan des Architekten vorgesehen gewesen war; da ging er, der praeceptor und arbiter architecturae ecclesiasticae, der seit vierzig Jahren mit
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    pathetischem Eifer und der blinden Affektiertheit des Überzeugten für Neugotik eintrat; sicher hatte er schon als Junge, wenn er durch die öden Vorstädte der heimatlichen Industriestadt trabte, triumphierend seine Einser nach Hause trug, im Anblick rauchender Schlote, schwarzer Häuserfronten sich entschlossen, die Menschheit zu beglücken und eine Spur auf dieser Erde zu hinterlassen; er würde eine hinterlassen; rötliche, im Laufe der Jahre immer trüber werdende Backsteinfassaden, in deren Nischen grämliche Heilige voll unzerstörbaren Trübsinns in die Zukunft blickten.
    Treuherzig hielt Meeser dem zweiten Jurymitglied das Tablett hin: Cognac für Krohl; jovial; rotweingesichtiger Zigarrenraucher, Fleischfresser; schlank war er geblieben; unabsetzbarer Baumeister von Sankt Severin: Taubendreck und Eisenbahndämpfe, chemisch vergiftete Wolken aus den östlichen, scharfe nasse Winde aus den westlichen Vorstädten, Sonne des Südens, Kälte des Nordens, alle industriellen und alle natürlichen Witterungskräfte garantierten ihm und seinen Nachfolgern Amt auf Lebenszeit; fünfundvierzig war er alt, so blieben ihm noch zwanzig Jahre für die Dinge, die er wirklich liebte: Essen, Trinken, Zigarren, Pferde und Mädchen von der besonderen Sorte, wie man sie in der Nähe vo n Pferdeställen trifft, bei Fuchsjagden kennenlernt; hartgliedrige Amazonen mit männlichem Geruch. Ich hatte meine Gegner studiert; Krohl verbarg seine absolute Gleichgültigkeit architektonischen Problemen gegenüber hinter einer ausgesuchten Höflichkeit, die fast chinesisch war, hinter einem Frömmigkeitsgebaren, das er Bischöfen abgelauscht hatte; Krohls Bewegungen waren echte Denkmaleinweihungsbewegungen; auch wußte er ein paar sehr gute Witze, die er ständig in einer bestimmten Reihenfolge abwandelte, und da er schon als Zweiundzwanzigjähriger
    ›Handkes Handbuch der Architektur‹ auswendig gelernt und sich damals entschlossen hatte, aus dieser Anstrengung sein Leben lang Nutzen zu ziehen, zitierte er immer dann, wenn er
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    Architektur-Vokabeln benötigte, den unsterblichen Handke; bei Jurysitzungen plädierte er schamlos

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