Billard um halbzehn
kann damit machen, was ich will; zu spät, aber vielleicht doch noch rechtzeitig. Vertrauen wir darauf, daß es bald regnet und der Dreck vom Dach heruntergespült wird; spät opfere ich sie dem Andenken meines Vaters. Hinab mit der Ehre der Väter, der Großväter und Urgroßväter.«
Ich fühlte mich stark genug und war's nicht, las die Algebra der Zukunft aus meinen Formeln, die sich zu Figuren auflösten; Äbte und Erzbischöfe, Generale und Kellner, sie gehörten alle zu meiner Komparserie; ich allein war Solist, auch wenn ich freitags abends im ›Sängerbund Deutscher Kehlen‹ den Mund öffnete und im Chor mitsang: Was glänzt dort am Walde im Sonnenschein'? Ich sang es gut, hatte es bei meinem Vater gelernt, übte meine baritonale Lautmalerei mit unterdrücktem Lachen aus; der Dirigent, der den Taktstock schwang, ahnte nicht, daß er meinem Taktstock gehorchte; und sie luden mich zur obligatorischen Geselligkeit ein, boten mir Aufträge an, schlugen mich lachend auf die Schulter: ›Geselligkeit, junger Freund, ist des Lebens eigentliche Würze.‹ Grauhaarige Kollegen fragten säuerlich nach Woher und Wohin, aber ich sang nur: Tom, der Reimer, von halb acht bis zehn, keine Minute drüber. Der Mythos sollte fertig sein, bevor der Skandal käme. Blumenkohl ist nicht verderblich.
Ich wanderte mit meiner Frau und meinen Kindern das Kissatal hinauf; die Jungen versuchten Forellen zu fangen; zwischen Weingärten und Weizenfeldern, Rübenäckern und
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Waldstücken wanderten wir dahin, tranken Bier und Limonade im Denklinger Bahnhof - und wußte doch, daß ich vor einer Stunde erst die Zeichnung abgegeben, die Quittung empfangen hatte; noch umgab mich Einsamkeit wie ein riesiger Rettungsring, noch schwamm ich auf der Zeit dahin, versank in Wellentälern, überquerte die Ozeane Vergangenheit und Gegenwart und drang, durch Einsamkeit vorm Versinken gesichert, tief in die eisige Kälte der Zukunft, hatte als eiserne Ration mein Lachen mit, von dem ich nur sparsam kostete - rieb mir die Augen, wenn ich auftauchte, trank ein Glas Wasser, aß ein Stück Brot und trat mit meiner Zigarre ans Fenster: dort drüben wandelte sie im Dachgarten, wurde manchmal in einer Lücke der Pergola sichtbar, blickte von der Brüstung auf die Straße hinab, in der sie sah, was auch ich sah: Lehrjungen, Lastwagen, Nonnen, Leben auf der Straße; sie war neunzehn, hieß Johanna, las Kabale und Liebe; ich kannte ihren Vater, den dröhnenden Baß im Sängerbund, dessen Klang mir nicht zur Rechtschaffenheit des Büros zu passen schien; das klang nicht nach Diskretion, wie sie den Lehrjungen eingebleut wurde; die Stimme war geeignet, jemand das Gruseln beizubringen, klang nach heimlicher Sünde. Wußte er schon, daß ich seine einzige Tochter heiraten würde? Daß wir an stillen Nachmittagen hin und wieder ein Lächeln tauschten? Ich schon an sie dachte mit der Heftigkeit des rechtmäßigen Bräutigams? Sie hatte schwarze Haare, war blaß, und ich würde ihr verbieten, resedafarbene Kleider zu tragen; grün würde ihr gut stehen; ich hatte die Kleider, die Hüte für sie schon ausgesucht auf meinen Nachmittagspaziergängen, im Schaufenster von Hermine Horuschka, an dem ich jeden Abend in Regen und Wind und im Sonnenschein und zwanzig vor fünf vorbeikam; ich würde sie aus dieser Biederkeit, die nicht zur Stimme ihres Vaters paßte, erlösen und ihr herrliche Hüte kaufen, so groß wie Wagenräder, aus derbem grüngefärbten Stroh; ich wollte nicht ihr Gebieter sein, ich wollte sie lieben, und ich würde nicht mehr lange
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warten. Sonntags morgens, mit Blumen bewaffnet, würde ich in der Kutsche vorfahren, so gegen halb zwölf, wenn man nach dem Hochamt das Frühstück beendet hatte, gerade im Herrenzimmer einen Schnaps trank: Ich bitte Sie um die Hand Ihrer Tochter. Jeden Nachmittag, wenn ich aus den Ozeanen auftauchte, zeigte ich mich ihr, hier im Atelierfenster, verneigte mich, wir tauschten ein Lächeln, und ich trat wieder ins Dunkel zurück; trat auch vor, um ihr den Glauben zu nehmen, daß sie unbeobachtet sei; ich brachte es nicht fertig, wie eine Spinne im Netz dazuhocken; ich ertrug es nicht, sie zu sehen, ohne von ihr gesehen zu werden; es gab Dinge, die man nicht tat. Morgen würde sie wissen, wer ich war. Skandal. Sie würde lachen, würde mir ein Jahr später schon die Mörtelspuren vom Hosenbein bürsten; würde es noch tun, wenn ich vierzig, fünfzig, sechzig war; und sie würde eine reizende alte Frau an meiner
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