Billard um halbzehn
wie kam er in unser Haus? Mir bleibt nicht einmal die törichte Hoffnung, er könne als Säugling vertauscht worden sein; er ist im Hause geboren, vierzehn Tage nach Heinrichs Tod, im Schlafzimmer oben, an einem dunklen Oktobertag 1917; er glich deinem Vater.
Still, Alter, sprich nicht, öffne nicht deine Augen, zeig mir nicht deine achtzig Jahre. Memento quia pulvis es et in pulverem reverteris. Sie sagen es uns deutlich genug; Staub, der Mörtel hinterläßt, Hypothekenbriefe, Häuser, Gutshöfe, ein Denkmal in einem friedlichen Vorort, wo spielende Kinder sich fragen werden: Wer war denn das?
Als junge Mutter, blühend und fröhlich, ging ich durch den Blessenfelder Park und wußte doch, daß die griesgrämigen Rentner dort, die auf die lärmenden Kinder schimpften, nur auf die schimpften, die einmal selber als griesgrämige Rentner dort sitzen und auf lärmende Kinder schimpfen würden, die einmal griesgrämige Rentner wären; zwei Kinder ha tte ich, an jeder Hand eins; sie waren vier und sechs Jahre alt, dann sechs und acht, acht und zehn, und im Garten hingen die korrekt gemalten Schilder: 25, 50, 75, 100, schwarze Ziffern auf weißlackiertem Blech, erinnerten mich immer an die Ziffern an
Straßenbahnhaltestellen; abends dein Kopf in meinem Schoß, die Kaffeetasse in Reichweite; wir warteten vergebens auf Glück, fanden es nicht in Eisenbahnabteilen, in Hotels; ein Fremder ging durchs Haus, trug unseren Namen, trank unsere
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Milch, aß unser Brot, kaufte sich von unserem Geld im Kindergarten Kakao, dann Schulhefte. Trag mich ans Flußufer zurück, wo meine nackten Füße die Hochwasserspur berühren, wo die Dampfer tuten, es nach Rauch riecht, bring mich in das Cafe, wo die Frau mit den herrlichen Händen bedient; still, Alter, weine doch nicht: ich lebte in der inneren Emigration und du hast einen Sohn, zwei Enkel, vielleicht werden sie dir bald Urenkel schenken; ich habe es nicht in der Hand, zu dir zurückzukehren, mir jeden Tag ein neues Schiffchen aus einem Kalenderblatt zurechtzufalten und munter bis Mitternacht dahinzusegeln: 6. September 1958; das ist Zukunft, deutsche Zukunft, ich habe es selber im Lokalblättchen gelesen:
›Ein Bild aus deutscher Zukunft; im Jahr 1958; aus dem einundzwanzigjährigen Unteroffizier Morgner ist der sechsunddreißigjährige Bauer Morgner geworden; er steht an den Ufern der Wolga; es ist Feierabend, er raucht sein wohlverdientes Pfeifchen, hat eins seiner blonden Kinder auf dem Arm, blickt versonnen zu seiner Frau hinüber, die gerade die letzte Kuh melkt; deutsche Milch am Wolgaufer...‹
Du willst nicht mehr weiterhören! Gut, aber laß mich mit der Zukunft zufrieden; ich will nicht wissen, wie sie als Gegenwart aussieht; stehen sie nicht am Wolgaufer? Weine nicht, Alter; zahl das Lösegeld, und ich komme aus dem verwunschenen Schloß zurück: ich muß haben ein Gewehr, muß haben ein Gewehr.
Vorsicht, wenn du die Leiter hinaufkletterst; nimm die Zigarre aus dem Mund; du bist nicht mehr dreißig und könntest schwindlig werden; heute abend im Cafe Kroner die Familienfeier? Vielleicht komm ich, viel Glück zum Geburtstag; verzeih, daß ich lache; Johanna wäre achtundvierzig, Heinrich siebenundvierzig; sie nahmen ihre Zukunft mit; weine nicht, Alter, du hast das Spiel gewollt. Vorsicht, wenn du die Leiter hinaufsteigst.«
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Der gelb-schwarze Bus hielt am Dorfeingang, schwenkte in Richtung Dodringen von der Landstraße ab, und Robert sah in der Staubwolke, die der Bus hinterließ, seinen Vater auftauchen; wie aus Nebelschwaden stieg der Alte ins Licht, immer noch elastisch, kaum von der Schwüle des Nachmittags angegriffen; er bog in die Hauptstraße ein, ging am ›Schwan‹ vorüber; gelangweilte Dorfburschen musterten ihn von der Freitreppe herab, fünfzehnjährige, sechzehnjährige; wahrscheinlich waren sie es gewesen, die Hugo aufgelauert hatten, wenn er aus der Schule kam; in dumpfen Nebengassen, in dunklen Ställen hatten sie ihn geschlagen und ihn Lamm Gottes gerufen.
Der Alte ging am Bürgermeisteramt vorüber, am
Kriegerdenkmal, wo müder Buchsbaum den Toten dreier Kriege aus saurer Erde seine Blätter zum Gedächtnis bot; an der Friedhofsmauer blieb der Alte stehen, zog ein Taschentuch heraus, trocknete sich die Stirn, faltete sein Taschentuch wieder, zog den Rock glatt, ging weiter, und bei jedem Schritt sah Robert die kokette Kurve, die das rechte Hosenbein beschrieb; nur für einen Augenblick wurde das dunkelblaue Stoßband sichtbar,
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