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Billard um halbzehn

Billard um halbzehn

Titel: Billard um halbzehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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bevor der Fuß den Boden wieder berührte, sich zu koketter Kurve wieder hob; Robert blickte auf die Bahnhofsuhr: zwanzig vor vier, erst um zehn nach vier würde der Zug kommen; eine halbe Stunde, so lange war er, soweit er sich erinnern konnte, noch nie mit seinem Vater allein gewesen; er hatte gehofft, dessen Besuch würde länger dauern und er der Notwendigkeit des Vater-Sohn-Gesprächs enthoben sein. Die Gaststube des Denklinger Bahnhofs war der am wenigsten geeignete Ort für diese Begegnung, auf die der Vater vielleicht seit zwanzig oder dreißig Jahren gehofft hatte; Gespräch mit dem gereiften Sohn, der nicht mehr Kind war, nicht mehr an der Hand zu nehmen, mit auf die Reise ins Seebad, zu Kuchen und Eis einzuladen: Gutenachtkuß, Morgenkuß, Frage nach den
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    Schularbeiten, ein paar Lebensweisheiten: Ehrlich währt am längsten; Gott, trügt nicht; Taschengeldempfänger; lächelnder Stolz über Siegerurkunden und gute Schulzeugnisse; verlegenes Gespräch über Architektur; Ausflüge nach Sankt Anton; kein Wort, als er verschwand, keins, als er wiederkam; beklemmende Mahlzeiten in Ottos Gegenwart, die sogar ein Gespräch übers Wetter unmöglich machte; Fleisch, mit Silbermessern geschnitten, Sauce mit Silberlöffeln genommen; Mutter starr wie das Kaninchen vor der Schlange, der Alte blickte zum Fenster hinaus, während er Brot zerkrümelte, gedankenlos einen Löffel zum Mund führte, Ediths Hände zitterten, während Otto sich verächtlich die größten Brocken Fleisch nahm, als einziger die Ingredienzien der Mahlzeit würdigte; Vaters Liebling, immer zu Ausflügen und Reisen, Extravaganzen bereit gewesen, fröhlicher Knabe mit fröhlicher Zukunft, geeignet, um auf Kirmesplätzen dem Vater das Gefühl eines erfüllten Lebens zu geben; heiter sagte er hin und wieder: ›Ihr könnt mich ja rauswerfen‹; keiner antwortete. Robert ging nach den Mahlzeiten mit Vater ins Atelier hinüber, saß nur da, zeichnete, spielte mit Formeln in dem leeren großen Raum, wo noch die Zeichentische von fünf Architekten standen; leer; während der Alte müde seinen Kittel überzog, dann zwischen Zeichenrollen kramte, immer wieder vor dem Plan von Sankt Anton stehenblieb, später wegging, spazieren, Kaffee trinken, alte Kollegen, alte Feinde besuchen; Eiszeit brach in den Häusern aus, wo er schon seit vierzig Jahren gern gesehener Gast war; in manchen Häusern des einen, in manchen des anderen Sohnes wegen; und er war doch fröhlich angelegt, der Alte, dazu geschaffen, ein munteres Leben zu führen, Wein und Kaffee zu trinken, zu reisen und die hübschen Mädchen, die er auf der Straße, in Eisenbahnzügen sah, alle als respektive Schwiegertöchter zu betrachten; oft ging er stundenlang spazieren, mit Edith, die den Kinderwagen schob; er hatte wenig zu tun, war glücklich, wenn er an Krankenhäusern, die er gebaut
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    hatte, kleine Umbauten planen, beaufsichtigen konnte, nach Sankt Anton fahren, die Reparatur einer Mauer veranlassen konnte; er glaubte, Robert grollte ihm, und Robert glaubte, der Alte grollte ihm. Aber jetzt war er gereift, selbst Vater erwachsener Kinder, Mann, vom Schicksal geschlagen durch den Tod der Frau; emigriert gewesen, heimgekehrt; im Krieg; verraten und gefoltert; selbständig, mit einem klar erkennbaren Platz: ›Dr. Robert Fähmel, Büro für statische Berechnungen, Nachmittags geschlossen‹; endlich zum Gesprächspartner geworden.
    »Noch ein Bier, der Herr?« fragte der Wirt von der Theke her, wischte Bierschaum vom Nickelblech, entnahm der Kühlvitrine zwei Teller mit Frikadellen und Senf, brachte sie dem Pärchen, das in der Ecke saß, vom Landspaziergang erhitzt, in müder Glückseligkeit.
    »Ja, bitte«, sagte Robert, »noch ein Bier«, schob den Vorhang beiseite; der Vater bog nach rechts ab, ging am
    Friedhofseingang vorüber, überquerte die Straße, blieb am Gärtchen des Bahnhofsvorstehers stehen, blickte auf die violetten, eben erblühten Astern; offenbar zögerte er.
    »Nein«, sagte Robert zur Theke hin, »bitte zwei Bier und zehn Virginia-Zigaretten.«
    Wo jetzt das Pärchen saß, hatte der amerikanische Offizier am Tisch gesessen; blondes, kurzgeschnittenes Haar erhöhte den Eindruck der Jugendlichkeit; die blauen Augen strahlten Vertrauen aus, Vertrauen in die Zukunft, in der alles erklärbar sein würde; sie war in Planquadrate eingeteilt; nur die Frage des Maßstabs war noch zu klären; 1 : 1 oder 1 : 3.000.000? Auf dem Tisch, wo die Finger des Offiziers mit einem

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