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Billard um halbzehn

Billard um halbzehn

Titel: Billard um halbzehn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Schrella 1896-1932; die Seele ausgeweint, der Leib der Erde des Nordfriedhofes beigemischt.
    »Endstation, mein Herr«, verkündete der Schaffner, stieg aus seiner Schleuse, zündete den Zigarettenstummel an, kam nach vorn: »Weiter fahren wir leider nicht.«
    »Danke.« Viertausendmal eingestiegen, ausgestiegen; Endstation der Elf; zwischen Baggerlöchern und Baracken verloren sich rostige Schienen, die vor dreißig Jahren einmal der Weiterführung der Bahn hatten dienen sollen; Limonadenbude: Chrom, Glasballons, blitzende Automaten; korrekt sortierte Schokoladentafeln.
    »Bitte, eine Limonade.«
    Das grüne Zeug in einem makellosen Glas schmeckte nach Waldmeister.
    »Bitte, der Herr, wenn es Ihnen nichts ausmacht, das Abfallpapier in den Korb. Schmeckt es?«
    »Danke.« Die beiden Hühnerschenkel waren noch warm, lockeres Brustfleisch, knusprig in allerbestem Fett gebraten, der Cellophanbeutel mit Spezial-Picknick-Warmhalte-Nadeln zugeknipst.
    »Das riecht nicht schlecht. Noch eine Limonade dazu?«
    »Danke, nein, aber bitte sechs Zigaretten.«
    In der fetten Budenbesitzerin war noch das zarte hübsche Mädchen zu erkennen, das sie einmal gewesen war: blaue Kinderaugen hatten beim Erstkommunionsunterricht den schwärmerischen Kaplan zu Attributen wie ›engelgleich‹ und

›unschuldig‹ hingerissen, waren jetzt zu händlerischer Härte versteinert.
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    »Macht zusammen neunzig, bitte.«
    »Danke.«
    Eben klingelte die Elf, mit der er gekommen war, zur Abfahrt; er zögerte zu lange, sah sich für zwölf Minuten in Blessenfeld gefangen; er rauchte, trank langsam den Rest der Limonade und suchte hinter dem steinern rosigen Gesicht nach dem Namen des Mädchens, das sie einmal gewesen war; blond, raste mit wehendem Haar durch den Park, schrie, sang und lockte in dunklen Fluren, als längst schon die Engelgleichheit dahingegangen war; erzwang heisere Liebesversprechen aus erregten Knabenkehlen, während der Bruder, blond wie sie, engelgleich wie sie, die Knaben der Straße vergebens zu edler Tat aufrief; Tischlerlehrling, Hundertmeterläufer, im Morgengrauen um einer Torheit willen geköpft.
    »Bitte«, sagte Schrella, »doch noch eine Limonade.«
    Er blickte auf den makellosen Scheitel der jungen Frau, die sich vorneigte, um das Glas unter den Ballon zu halten; ihr Bruder war Ferdi, der engelgleiche, ihr Name wurde später von rauhen Jungenkehlen weitergeflüstert, von Mund zu Mund gegeben wie ein Losungswort, das zum Eintritt ins Paradies berechtigte: Erika Progulske, Erlöserin aus dunklen Qualen, und nimmt nichts dafür, weil sie es gern tut.
    »Kennen wir uns?« Lächelnd stellte sie das Limonadenglas auf die Theke.
    »Nein«, sagte er lächelnd, »ich glaube nicht.«
    Nur nicht die Erinnerung aus ihrer Erfrierung auftauen, die Eisblumen würden wie flaues schmuddliges Wasser
    herunterrinnen; nur nichts heraufbeschwören, die Strenge kindlicher Gefühle aus aufgeweichten Erwachsenenseelen zurückerwarten, erfahren, daß sie jetzt etwas dafür nahm; Vorsicht, nur nicht die Sprache in Bewegung setzen.
    »Ja, dreißig Pfennig. Danke.« Ferdi Progulskes Schwester blickte ihn mit routinierter Freundlichkeit an. Auch mich hast du
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    erlöst und nichts dafür genommen, nicht einmal den Riegel Schokolade, der in meiner Tasche weich geworden war, und es sollte doch nicht Bezahlung sein, sondern ein Geschenk, aber du nahmst es nicht; erlöst mit dem Mitleid deines Mundes und deiner Hände; ich hoffe, du hast es Ferdi nie erzählt, zum Mitleid gehört Diskretion; in Sprache verwandelte Geheimnisse können tödlich werden; ich hoffe, er hat es nicht gewußt, als er an jenem Julimorgen den Himmel zum letzten Mal sah; ich war der einzige, in der Gruffelstraße, den er zu edler Tat bereit fand; Edith zählte damals noch nicht, sie war erst zwölf, die Weisheit ihres Herzens war noch nicht zu entziffern.
    »Kennen wir uns wirklich nicht?«
    »Nein, ich bin sicher.«
    Heute würdest du mein Geschenk nehmen, dein Herz ist fest, doch nicht mitleidend geblieben; wenige Wochen später schon hattest du die Unschuld kindlicher Lasterhaftigkeit verloren, hattest schon entschieden, daß es besser sei, das Mitleid abzuwerfen, und warst dir klar darüber, daß du dir nicht als weinerliche blonde Schlampe die Seele ausweinen würdest; nein, wir kennen uns nicht, wirklich nicht; wir wollen die Eisblumen nicht auftauen. Danke, auf Wiedersehen.
    Drüben immer noch das ›Blesseneck‹, wo Vater gekellnert hat; Bier, Schnaps,

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