Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
…«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen! Gestern habe ich mich selbst dabei überrascht, meiner Enkelin gegenüber vom ›absoluten Bösen‹ zu sprechen – ein Ausdruck, den ich unter anderen Umständen sicher nicht verwendet hätte. Ich hatte dabei diese Verirrung im Sinn, die man als Snuffs bezeichnet. Und auch die Tatsache, dass die Hinmetzelung von Sandrine und Gabriella gefilmt werden sollte und dass der Erlös aus dieser Verfilmung die Kassen der Mirandisten füllen sollte. Allein der Gedanke daran, dass Liebhaber ›starker Eindrücke‹ bereit sind, sich für Geld …«
Er biss sich auf die Lippen und war verärgert darüber, dass er sich hatte hinreißen lassen. Als er Laurences Blick begegnete, verwirrte es ihn, dass er in ihren Augen einen Widerschein der Gefühle zu erkennen meinte, die ihn so bewegten.
»Ich habe D'Altamiranda in Xaghra persönlich kennen gelernt«, sagte sie. »Eine unvergessliche Begegnung! Er schien wie in eine mystische Aura getaucht – nein, ich übertreibe nicht! Sein Gesichtsausdruck, die Intensität seines Blicks, der Ton seiner Stimme: Alles wirkte zusammen, um mich davon zu überzeugen, dass er die Wahrheit sagte und dass er gleichermaßen mein irdisches Wohlerge-hen und das Heil meiner Seele erstrebte. Aber Sie haben ja selbst gesehen, was heute dieser Pinocchio aus dieser Persönlichkeit gemacht hat… Ist das nicht eine schlimmere Ungeheuerlichkeit als alles, was dieser Schwarze Orden sich zu Schulden kommen ließ?
Schlimmer selbst noch als diese berüchtigten Snuffs?«
»Erklären Sie das bitte näher!«, antwortete MacMillan.
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Doch der beklommene Ton seiner Stimme verriet ihn: Er verstand sie nur zu gut und hätte leicht ihre folgende Begründung auch selbst abgeben können.
»Thierry Bugeaud hat sein teuflisches Programm dieses Mal dazu benützt, einen Unhold zu entlarven«, erläuterte sie. »Aber nichts kann ihn davon abhalten, es auch für andere Zwecke zu benutzen.
Zum Beispiel dazu, einem Lumpen das Gesicht eines Ehrenmannes zu verleihen. Oder einen düsteren Tyrannen in einen charismati-schen Propheten zu verwandeln. Was wird aus der Wahrheit, wenn die Realität keinen Bestand mehr hat?«
Über das Orsini-Palais war die Nacht hereingebrochen. Irgendwo in den Tiefen des Parks hörte man Sandrines und Gabriellas Ge-lächter.
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EPILOG
ydia Frescobaldi verbrachte eine Woche in Ottawa, um gemein-Lsam mit Kiersten einen ›Zwischenbericht‹ für die Mitgliedsländer von Interpol zu verfassen. Für achtundvierzig Stunden stieß auch Kenneth Sabbagh zu ihnen. Anschließend wollten sie zusammen die weiteren gemeinsamen Aktionen von Scotland Yard, GRC und Casus Belli planen.
Im Wesentlichen war die Universelle Vereinigungskirche zerschla-gen. Thierry hatte es geschafft, noch kurz vor dem Selbstverbren-nungsritual den größten Teil des von der Organisation gespeicherten Datenmaterials in Sicherheit zu bringen, ehe Argos es hätte vernichten können. Man hatte es mit den Unterlagen und gespeicherten Daten verglichen, die man bei Yan Tung und Farik Kemal gefunden hatte. Dadurch war es möglich gewesen, Schritt für Schritt den höchst verschlungenen Aufbau des gesamten Mirandistischen Finanzimperiums zu entschlüsseln. Auf drei Kontinenten waren Bankkonten beschlagnahmt oder eingefroren worden. In verschiedenen Ländern hatten die Behörden erfolgreich gemauert, um Zeit zu gewinnen und die Spuren der Korruption auf höchster Ebene zu verschleiern.
Der Massenselbstmord in Xaghra, die Aufdeckung der wahren 519
Ziele der Fünften Offenbarung und das ungeklärte Verschwinden El Guías hatten einen enormen Wirbel in den Medien ausgelöst. Die Frage der Sekten allgemein war wieder hochgespült worden, und sie wurde unter sämtlichen Aspekten zerpflückt und beleuchtet von Journalisten, Theologen, Soziologen und sonstigen bedeutenden Mitgliedern der internationalen Intelligenz. Die meisten hatten so getan, als ob dieses Problem eine aktuelle Neuentdeckung wäre, und Erkenntnisse, die darüber schon seit Jahrzehnten bekannt waren, wurden als sensationelle neue Forschungsergebnisse gehandelt.
Die Insel Gozo war zur Touristenattraktion geworden. Täglich strömten Hunderte von Menschen zum Heiligtum, die vor Neugier regelrecht krank waren. Dabei gab es kaum etwas zu sehen, denn die Einrichtungen waren teils vernichtet, teils geplündert worden.
Da und dort hatten indessen eifrige Fremdenführer auf die alten Steine des Klostergebäudes und der
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