Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
davongekommen, wie es scheint. Sie sollen in etwa einer Stunde in Fiumicino landen.«
Der alte Herr verstummte, betrachtete die junge Frau verstohlen und fragte dann mit gesenkter Stimme, ob sie lieber allein sein wolle.
»Achten Sie bitte nicht darauf!«, antwortete sie und wischte sich die Augen. »Es ist die Erleichterung, und wohl auch die Erschöpfung … Ob ich allein sein wol e, fragten Sie? Aber nein, im Gegen-514
teil. Und wenn ich Sie noch um einen weiteren Gefallen bitten dürfte: Stecken Sie sich doch bitte eine Pfeife an!«
»Wenn es weiter nichts ist!«, sagte er, wenn auch überrascht, und holte seinen alten ledernen Tabaksbeutel hervor. »Gibt es einen besonderen Grund dafür?«
»Nein! Ich finde es einfach beruhigend …«
Im Halbdunkel konnte sie erkennen, dass er sich lächelnd gegen die steinerne Balustrade lehnte. Hatte nicht jemand behauptet, er sei streng?
Es breitete sich ein langes, aber herzliches und freundschaftliches Schweigen zwischen ihnen aus. Dankbar schloss sie die Augen. Bald hörte sie das Anreißen eines Streichholzes, das leise Knistern des sich entzündenden Tabaks, und ein würziger Duft breitete sich aus.
»Kiersten sollte einmal versuchen, mit ihm gemeinsam zu schweigen, wenigstens einmal! Sie könnte sich auf Überraschungen gefasst machen!«
»Ich habe Sie während des Mittagessens beobachtet«, sagte er schließlich. »Sie haben sich der allgemeinen Entspannung nicht angeschlossen … Dabei muss doch der Fehlschlag der Großen Versammlung auch für Sie eine große Erleichterung bedeutet haben.
Ich mache mir zwar so meine eigenen Gedanken darüber, was Sie beschäftigt, aber ich hätte dazu doch gern etwas von Ihnen selbst gehört. Oder bin ich indiskret? Zu indiskret vielleicht?«
»Aufmerksam sind Sie«, antwortete sie nachdenklich. »Erinnern Sie sich an das Ende des Ehepaares Ceausescu? Mich hat das seinerzeit stark beschäftigt. Dieser Scheinprozess, das überstürzte Urteil, diese schäbige Hinrichtung … Damals habe ich die Gründe für mein Unbehagen gar nicht recht verstanden, erst später, während meiner Gefangenschaft.«
»Und was waren diese Gründe?«
»Gesichtslose Richter haben es zugelassen, dass ein Tyrann den geheiligten Platz eines Opfers einnehmen konnte. In Maghrabi 515
musste ich lernen, mit meinem Mitleid hauszuhalten. Aber vorher … Die Bilder dieses gestürzten, verwirrten alten Ehepaars, das war unerträglich! Das Mitleid mit den beiden hat in mir ein Gefühl der Entehrung ausgelöst… Eine Regung meiner Seele, die in die falsche Richtung gewandt schien. Entschuldigen Sie bitte … Ich spreche sehr selten von solchen Dingen.«
»›Entehrendes Mitleid‹!«, meinte MacMillan ernst. »Ist ein solcher Widerspruch überhaupt vorstellbar? Nun ja, ich fürchte, tatsächlich
… Und zweifellos haben Sie heute das gleiche gegenüber D'Altamiranda empfunden?«
»Nein, nein!«, schrie sie mit heftig geröteten Wangen. »Aber ich hatte das Gefühl, Sie zu verraten, Sie alle! Noch nicht einmal dort drunten habe ich mich jemals so allein gefühlt wie hier! Ich gebe es zu: Ich gehörte nicht zu Ihnen vorhin, ich stand nicht auf Ihrer Seite! Natürlich ist mir klar, dass eine schreckliche Tragödie in letzter Minute verhindert werden konnte. Und dennoch: Wenn ich die Macht gehabt hätte, Thierry Bugeauds Manipulation zu verhindern, dann hätte ich das getan! Ohne jedes Zögern!«
»Und warum?«
»Ich weiß es nicht. Einfach so. Niemand wird das begreifen können …«
Außer Fassung und nur mit Mühe noch die Tränen zurückhaltend, wollte sie davonstürzen. Doch er legte ihr die Hand auf die Schulter – gerade von seiner Seite eine völlig unerwartete Geste. Sie begegnete im Halbdunkel seinem Blick.
»Glauben Sie das ernsthaft?«, sagte er. »D'Altamiranda ist ein Ungeheuer, nicht wahr?«
»Das kann man wirklich sagen. Und eines der schlimmsten Sorte obendrein!«
»Man hat erfolgreich ein Mittel angewendet, um ihn daran zu hindern, zu zerstören. Dieses Mittel jedoch verdammen Sie, unwiderruflich. Und das geht so weit, dass Sie bereit gewesen wären, 516
El Guía gewähren zu lassen, ohne ihm diesen Knüppel zwischen die Beine zu werfen.«
Sie bestätigte ihm das kopfnickend. Worauf wollte er hinaus?
»Sie meinen also, dass das Mittel schlimmer ist als das Übel, gegen das es gerichtet ist. Ist das richtig?«
»Völlig richtig. Offen gestanden, habe ich nicht intensiv darüber nachgedacht; meine Reaktion ist absolut intuitiv
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