Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
strafte sie Lü-
gen: Sie hatte gewiss wieder einen sehr ausgefüllten Vormittag hinter sich, und dies bestimmt nicht, weil sie einfach nicht aus dem Bett gekommen war …
Francesco kam, um die Bestellung aufzunehmen, und es entwickelte sich eine sachkundige Diskussion über die Vorzüge einer Hasenkeule in dreierlei Senfsoße und ein detailliertes Gespräch über den dazu zu wählenden Wein.
In stillschweigender Übereinkunft vermieden sie während des Essens berufliche Themen. Lydia bestritt den Hauptteil der Unterhaltung, indem sie die von ihrer Mutter Priscilla entwickelte ›Strategie in sieben Schritten‹ zur Eroberung Enrico Bugliones zum Besten gab.
»Enrico setzt auf Sie wegen eines Ablenkungsmanövers«, versicherte sie dem Richter. »Auf sich allein gestellt, fühlt er sich ihr nicht gewachsen.«
»Davon glaube ich Ihnen keine Silbe! Und auf jeden Fall fürchte ich, seiner ehrenvollen Einladung nicht entsprechen zu können.
Wenn auch mit großem Bedauern, bitte glauben Sie mir das!«
»Aber wirklich, Sie müssen! Die Bruderschaft der Zwillinge ohne Sie: Das wäre doch wie die drei Musketiere ohne Athos! Ganz unter uns übrigens: Sanguinettis Zustand hat sich außerordentlich gebes-sert, und er sprüht vor Feuer. Die Ärzte freilich reden von einer typischen Remission und sehen das nur als Hinweis auf sein bal-525
diges Ende …«
Kiersten beobachtete ihren Vater. Er wirkte unsicher, hin und her gerissen sogar, was gar nicht seine Art war. Bisher hatte sie sich weit öfter daran gestört, dass seine Reaktionen immer so genau vorher-sehbar waren. Jetzt im Augenblick aber hätte sie beim besten Willen nicht sagen können, in welche Richtung seine Entscheidung wohl ausschlagen würde. Und dieses Dilemma, in dem er sichtlich steckte, faszinierte sie.
Buglione hatte eine ›außerordentliche Generalversammlung‹ der
›Zwillingspatriarchen‹ einberufen zur Feier des Silvesterabends an Bord der Odysseus. Das sollte in Verbindung mit einer achttägigen Kreuzfahrt in den Kykladen geschehen: Mykonos, Naxos, Santorin, Milos, Thera usw. Unter anderen Umständen hätte William MacMil an keinen Augenblick gezögert. Wenn er sich an die im Orsini-Palais mit seinen Genossen Luigi und Enrico verbrachten Tage erinnerte, strahlte sein Gesicht, und in seine grauen Augen trat ein vergnügtes Funkeln, wie es Kiersten nicht gerade häufig an ihm wahrgenommen hatte. Aber er fürchtete, mit der Annahme dieser Einladung diese so außergewöhnliche und seltene Freundschaft zu ge-fährden.
Denn nach der Großen Versammlung war es zu einigen unerwarteten Ereignissen gekommen. In Istanbul war das dortige Hauptquartier der Mirandisten in die Luft geflogen. In Budapest hatte man in seinem Hotelzimmer Janos Carazzo mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Als gewissenhaft arbeitender Regisseur hatte er natürlich in seinen Unterlagen ein Verzeichnis seiner regelmäßig für ihn tätigen Mitarbeiter bei sich gehabt: Kameramann, Regieassis-tent, Toningenieur, Beleuchter usw. Es waren insgesamt neun Leute: fünf Türken, zwei Bosnier, ein Iraner, ein Portugiese. Sie alle hatte man dann an den verschiedensten Orten aufgefunden; am Leben war keiner mehr von ihnen…
Auf ihr gemeinsames Konto gingen gut zwanzig Snuffs – darunter 526
das über die ›Astrale Verklärung‹ Flavio Bugliones. Hätte man sie wohl, wenn sie am Leben geblieben wären, geschnappt und vor Gericht gestellt? MacMillan hatte seine begründeten Zweifel daran, nachdem er wusste, wie die Gerichte in Ankara sich seinerzeit gegenüber Farik Kemal verhalten hatten. In diesem Zusammenhang erinnerte er sich noch sehr gut an eine leidenschaftliche Diskussion mit dem alten Fuchs über eine Bemerkung Goethes, die da sinngemäß lautete: »Besser eine Ungerechtigkeit als Unordnung!« Enrico, der bei dem Gespräch zugegen war, hatte kein einziges Wort dazu geäußert. Dennoch hatte ihn das Problem der Unbestrafbarkeit sichtlich beschäftigt. Gerade sein Schweigen dazu war im Rückblick wohl äußerst viel sagend …
Francesco kam herein, einen Wagen mit Dessert zur Auswahl her-einschiebend.
Der Richter bat Lydia um die Erlaubnis, rauchen zu dürfen, und sagte dann:
»Was ich da über Luigi höre, macht mich traurig. Man musste ja darauf gefasst sein, sicher, aber trotzdem… Ich werde ihm jedenfalls schreiben, noch heute Abend. Und Sie möchte ich bitten, meinem Freund Buglione zu bestellen, dass ich mich alsbald zu seiner Einladung äußern werde
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