Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Christopher würde es gut haben hier. Und zu diesem Mann konnte sie Vertrauen haben, ohne den Schatten eines Zweifels!
Wenn irgendjemand auf der Welt ihrem Kind helfen konnte, dann war er es und niemand sonst!
Sie hatte das verwirrende Empfinden, ihn schon seit langem zu kennen. Dabei sah sie ihn heute zum ersten Mal! »Es ist seine Stimme, ich muss sie irgendwo schon einmal gehört haben. Aber wo nur? Und bei welcher Gelegenheit?«
Sie musste sich das einbilden, denn wie hätte das denn möglich 532
sein sollen? Doris hatte ihr versichert, dass der Pater sich nicht in der Öffentlichkeit zeige und jegliches Interview ablehne. Und obendrein würde man eine Stimme wie die seine nie vergessen! Sie drang einem durch und durch und erfüllte die Seele mit Balsam…
Während der Rückfahrt nach Kinshasa machte sich Jenny Gedanken darüber, wie wohl ihre Freundin Doris reagieren würde. Fände sie überhaupt die rechten Worte, um ihr verständlich zu machen, wie das in Mbaku-Bashi gelaufen war?
Auf dem Rückweg zum Auto war sie wieder dem Mädchen mit der schlecht verheilten Narbe am Auge begegnet, das diesmal von einer jungen Frau begleitet war, ganz offensichtlich ihrer Mutter.
Diese war auf sie zugestürzt und hatte auf sie eingeredet – doch in welcher Sprache?
Einer der Uniformierten war herangetreten und hatte sie, sie grob am Arm packend, weggezerrt. Sie hatte sich wütend dagegen ge-wehrt, und es hatte sich ein zorniger Wortwechsel ergeben. Die Stimme des Mannes wurde immer drohender, und die Frau zog sich schließlich zurück, ihre Tochter an der Hand. Dabei wandte sie sich noch mehrmals um und warf der weißen Besucherin ein-dringliche Blicke zu, als wolle sie sie vor einer Gefahr warnen …
»Ich habe mich davon beeindrucken lassen«, bestätigte sich Jenny. »Dabei: Was hätte sie mir denn sagen können, und wie überhaupt! Aber wie auch immer: So behandeln hätte der Kerl sie nicht dürfen!«
Sie machte sich Vorwürfe, dass sie sich so hatte in Panik versetzen lassen. Nun gut, es gab entschuldigende Gründe dafür – die Zeitverschiebung, die Hitze, ihre Verunsicherung. Und jetzt war es ohnehin zu spät, ihren Schritt rückgängig zu machen. »Führst du Selbstgespräche?«
»Ach, du bist wach geworden … Ja, ich erzähle mir Geschichten…«
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Christopher hatte während der ganzen Fahrt geschlafen, auf der Rückbank zusammengerollt wie ein von der Jagd erschöpftes Hündchen.
»Wo sind wir denn? Ich müsste mal pinkeln …«
»Wir sind gleich da! Nur noch fünf Minuten …«
»Warum bist du zurückgekommen, um mich zu holen?«
»Ich weiß es nicht. Das ist sehr kompliziert…«
Wie sollte sie ihm auch erklären, dass sie im allerletzten Augenblick ihre Meinung geändert hatte, und nicht etwa aus mangelndem Glauben an Díaz de La Santa, sondern gerade weil sie ihm so uneingeschränkt und sofort absolutes Vertrauen geschenkt hatte –
ohne jeden weiteren Gedanken, ohne jeden Vorbehalt. Sie verstand ihre Reaktion ja selbst nicht…
Sie dachte wieder an das Mädchen und dessen Mutter. Dass die beiden Zeugen des Bösen geworden waren, hatte sie intuitiv empfunden, als absolute Gewissheit. Ihre Blicke hatten sich ihr unauslöschlich eingeprägt.
»Meinst du denn, wenn ich dort geblieben wäre, hätte …« Sie legte dem Kind sanft den Finger auf die Lippen.
Schon den ganzen Nachmittag über hatte Laurence sich auf diesen Augenblick gefreut. Bereits im Taxi hatte sie ihren Schlüsselbund herausgenommen, um im Treppenhaus damit keine Zeit mehr zu verlieren. (Sie hatte sämtliche Schlösser austauschen, die Eingangstür mit einem speziellen Sicherungssystem versehen und eine Ge-räuschdämmung einbauen lassen, um vom Lärm des Aufzugs verschont zu bleiben.) Die Wohnung – sie hatte sich sofort in sie verliebt – lag im dritten Stock eines Bürgerhauses aus dem siebzehnten Jahrhundert in der Rue Jouffroy-d'Abbans.
Sie trat mit dem ein bisschen verschrobenen Gefühl ein, hier zu Besuch zu sein. Es war eine berauschende Empfindung, die sie, ob-534
wohl sie diese Wohnung ja nun seit einer Woche kannte, vor Glück erzittern ließ, als ob sie sie zum ersten Mal betrete.
Der Geruch nach frischer Farbe und neuer Lackierung verschwand von Tag zu Tag mehr. Die in gebrochenem Weiß gehaltenen Wände würden sich rasch mit Gemälden oder alten Stichen füllen. Solange sie noch leer waren, boten sie eine herrliche Gelegenheit zu Träumen und bestimmten Vorstellungen … Nur nichts überstürzen
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