Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Schluss ihres Schreibens darum gebeten, über den Fall von Jennys Sohn Christopher mit Pater Díaz reden zu dürfen.
Der Landrover hielt nahe dem ehemaligen Krankenhaus von Mbaku-Bashi an. Davor drängte sich in voller Sonnenhitze bereits eine kleinere Menschenmenge. Zwei Uniformierte bemühten sich, einigermaßen Ordnung in das Gedrängel zu bringen.
Als Jenny und ihr Sohn aus dem klimatisierten Wagen stiegen, hatten sie das Gefühl, in einen Backofen zu kommen. »Wie sollen wir das nur aushalten!«, dachte Jenny. »Das sind doch mindestens fünfzig Leute!«
Der Botschaftsfahrer gab ihnen ein Zeichen, sie möchten kurz warten, und trat auf einen der Ordner zu. Er sprach erst laut und dann auffallend leise mit ihm, und eine Banknote wechselte diskret ihren Besitzer.
»Schau mal, Mama, wie das Mädchen da mich anguckt…«
Eine Hand voll Kinder stand am Rand der staubigen Straße, auf der sie gekommen waren. Unter ihnen war ein Mädchen von vielleicht zehn oder elf Jahren, das tatsächlich den weißen Jungen unentwegt anstarrte. (Es hatte eine schlecht verheilte Schnittwunde am Lidwinkel.) Plötzlich begann sie gleichmäßig und beständig ihren Kopf von links nach rechts zu drehen. Was mochte sie damit ausdrücken wollen?
»Wahrscheinlich hat sie noch nie Außerirdische gesehen …«, murmelte Jenny.
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Doch der abgedroschene Witz verfehlte inzwischen seine Wirkung völlig.
Der Wachmann wies sie an, ihm in das Gebäude zu folgen. In der wartenden Menge gab es zwar einige murrende Stimmen, aber nicht viele: Christophers kahler Kopf schien auf einen dringenden Fall hinzuweisen. Abgesehen davon, war es den meisten hier wohl lieber, etwas Abstand zu halten. Man konnte schließlich nie wissen
… Jenny hastete voran, die Ohren dröhnten ihr.
Man führte sie in ein Zimmer, das gänzlich leer war bis auf einen Betstuhl und ein großes Ebenholzkruzifix an der weiß gekalkten Wand. Das einzige Fenster war vergittert.
»Glaubst du, dass diese Leute da draußen alle krank sind? Warum stellt man ihnen denn dann keine Stühle hin?«
Jenny fand keine Zeit mehr, die Frage ihres Sohnes zu beantworten, denn die Tür öffnete sich und Pater Díaz de La Santa trat ein.
Seine erste Geste: Er legte einen Finger auf die Lippen. Dann kniete er nieder, schob die Brille mit ihrer leichten Metallfassung auf die Stirn und verbarg sein Gesicht in den Händen. Sein dichtes Haar trug er in einem kurzen Bürstenschnitt. Er erhob sich schließlich und schaute Jenny eindringlich an; sein dunkler Blick war erfüllt von Freundschaft und Anteilnahme.
»Diese lange Reise muss Sie sehr ermüdet haben«, sagte er mit tiefer Stimme. »Und obendrein die Ungewissheit, ob sie sich überhaupt lohne…«
Er streckte ihr die Hände entgegen, deren Innenflächen nach oben gerichtet, als Angebot, ihr die Müdigkeit abzunehmen. Sie legte mit einer gewissen Befangenheit ihre Hände in die seinen.
Rasch spürte sie, wie eine wohltuende Welle ihre Hände, ihre Schultern, ihren Oberkörper durchströmte. Sie fuhr in einer Art von Scham zurück.
»Ich bin nicht wegen mir selbst gekommen …«
Er lächelte sie verständnisvoll an und wandte sich dann Christo-531
pher zu. Er legte ihm mit geschlossenen Augen die Hand auf den kahlen Kopf, und es entstand ein langes Schweigen.
»Sie haben ihn mit Giften voll gestopft, weil sie nichts davon verstehen!«, sagte er schließlich.
»Können Sie etwas für ihn tun?«
»Ich kann mich seiner annehmen, ja. Aber im Augenblick habe ich nicht länger Zeit, Sie verstehen das doch bitte. Lassen Sie ihn mir da bis zum Ende der Woche. Er kann hier in diesem Zentrum bei den übrigen Kindern bleiben – Kriegswaisen, um die wir uns hier kümmern …«
»Aber warum…«
De La Santa bat sie um Verständnis dafür, dass er sich jetzt sofort nicht weiter mit dem Jungen beschäftigen könne: Es warteten ja noch so viele andere Kranke auf ihn, leider! Am späteren Abend dann, wenn wieder Ruhe eingekehrt sei, wolle er sich ihm widmen
– unter vier Augen. Er werde ihn lehren, die fünf Schwellen zu überschreiten zur Erlangung der ›Gnade der Erneuerung‹.
»Dadurch wird Ihr Sohn in der Lage sein, sich selbst zu heilen …
Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie nachdenken können. Aber wenn Sie mehr Zeit zur Überlegung brauchen, können Sie ja in vierzehn Tagen noch einmal herkommen.«
Eine Art von Schwächeanfall überkam sie, und doch zugleich auch eine Welle der Hoffnung und der Freude. Worauf denn warten?
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