Bin Ich Schon Erleuchtet
meinen Arm am Schultergelenk abgeschraubt und in die Schlucht geworfen. Noch nie war der Wunsch, meinen physischen Körper zu transzendieren, so stark gewesen.
In diesem Moment rief Carl: »Da! Schau mal, da!«
Mein Blick folgte seinem Arm, der auf ein großes Makakenmännchen deutete, das ein kleineres Weibchen anschrie und in ihre Richtung boxte. Ein zweites Weibchen sprang auf das Männchen zu und konnte es kurz verscheuchen, doch dann ging es gleich wieder mit gefletschten Zähnen und einem bedrohlichen Buckel auf die beiden Weibchen los.
»Was hat er denn?«
»Da drüben«, sagte Carl, »der eine da links.«
Das erste Weibchen hielt ein Schildpattkätzchen in den Armen. Das winzige Fellknäuel wand sich ängstlich und hieb mit den Krallen nach dem Makakenweibchen, das es nur noch fester hielt. Ein paarmal gelang es dem Kätzchen, sich herauszuwinden und auf den Hals des Affenweibchens zu krabbeln, aber jedes Mal riss das Weibchen es wieder ab wie von einem Klettverschluss und drückte es an sich. Das Weibchen ließ sich von dem männlichen Makaken überhaupt nicht einschüchtern und schien absolutes Vertrauen zu den diplomatischen Fähigkeiten ihrer Freundin zu haben, die das Männchen immer noch anknurrte und anspuckte.
Carl machte ein ehrfürchtiges Gesicht. »Ich liebe das Tierreich«, hauchte er.
»Soso, du liebst das Tierreich. Wart nur ab, bis du seinen Arsch auf deiner Schulter riechst.«
Wir gingen zurück zum zentralen Aussichtsplatz, wo wir uns voneinander verabschiedeten. Als ich mich schon umgedreht hatte, wünschte mir Carl noch Glück auf dem Pfad. Dann zog er seinen Flachmann aus der Gesäßtasche und sagte: »Wie du siehst, hat er eine Menge für mich getan.« So endete unsere kurze Bekanntschaft. Carl schlingerte auf eine Gruppe französischer Touristen zu, und ich schwang die Hufe zum Casa Luna, wo ich die letzten zwanzig Minuten damit verbracht habe, mir die Schulter zu schrubben.
Später
Als Teenager glaubte ich fest daran, dass versoffene Landstreicher weise sind. Außerdem glaubte ich wohl an den Archetyp des weisen Eingeborenen, der in der spirituellen Literatur des Westens ständig auftaucht und seine schlichten, tiefgründigen, eingeborenen Wahrheiten von sich gibt. Das College hat mich von diesem Übel kuriert. Hatte ich gedacht. Oder auch nicht, denn meine kurze Begegnung mit Carl hat auf umständliche Art etwas für mich geklärt: Die Stärksten in unserer Gesellschaft sind Atheisten. Die Schwächsten sind wir, die wir gerne glauben würden, wenn wir nur könnten. Wir sind für Verzweiflung am anfälligsten. Wir wollen glauben, wir spüren, dass es da draußen womöglich etwas gibt, aber wir finden es nicht und fühlen es nicht oder können nicht daran glauben. Und das Etikett »Agnostiker« hilft uns auch kein Stück weiter.
Mein Kopf will Atheist sein. Ich will mich zu diesem Leben, zu dieser Welt, dieser Ebene der Existenz, dieser begrenzten Welt der Milkshakes und Affenärsche bekennen. Aber ich kann nicht akzeptieren, dass die Wissenschaft die Möglichkeit eines Gottes ausgeschlossen hat. Das kaufe ich denen nicht ab. Der Atheismus würde einen ebenso großen Glaubensakt erfordern, als wenn ich Christus als meinen Herrn und Erlöser annehmen würde. Aber ich würde zu gerne meine täglichen Entscheidungen in dem Wissen treffen, dass ich nur dieses eine Leben habe und danach endgültig tot bin.
Ich gehöre zu den Phantasten und Träumern und Wäre-es-nicht-schön-Denkern. Ich sehne mich nach Ordnung, nach Sinn. Nach Gott. Deshalb bin ich vermutlich auch hier. Weil ich zu feige dazu bin, es auszuhalten und mir meinen eigenen Lebenssinn zu schaffen.
Mein Herz will glauben. Ich will jemand sein, der morgens aufwacht und meditiert oder betet und in die Messe oder in den Tempel oder die Moschee geht. Der Atheist mag sagen, solche Leute sind schwach, sie brauchen eine Krücke, aber was gäbe ich nicht für diese Krücke! Das Leben ist hart und voller Strapazen und Brüche. Eine Krücke parat zu haben, wäre nicht schlecht, nur für den Fall.
Ich würde mir so wünschen, einen spirituellen Lehrer zu finden, der mich nicht enttäuscht. Oder ein Bild von Gott, das Hand und Fuß hat. Aber die sind doch alle gleich, oder? Indra, Gott, Religion. Alle unzulänglich. Alle letztlich enttäuschend, ganz egal, wie verheißungsvoll sie einem mal erschienen.
Aber wem mache ich hier was vor? Ich bin die Enttäuschung. Ich bin die, die nicht kämpfen will, wie Carl gesagt hat. Weil ich
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