Bin Ich Schon Erleuchtet
Wesens im Buddhismus verträgt, sagte er: »Vielleicht glaube ich nicht an Gott. Vielleicht glaube ich nur an Kultur.«
Vielleicht hat er was kapiert.
Nach dem Abend, an dem wir den Mixer unserer Yoga-Lehrer exorziert hatten, wünschte ich mir, mein ganzes Leben würde sich in ein Ritual verwandeln. Ich fühlte mich wie eine Novizin. Indra, die Mutter Oberin, hatte mir ihre Anweisungen erteilt: Sei tapfer, sei stark, lies unsere heiligen Texte, und übe das Sterben. Das würde ich jetzt tun. Ich setzte mich an meine Bücher. Ich meditierte während der Unterrichtspausen und richtete meinen Geist jeden Tag auf eine andere Sutra. Als ich klein war, hatten wir genau so über die Geheimnisse des Rosenkranzes kontempliert.
Manchmal kreiste meine Meditation um das Bild von Indra und Lou. Um die magnetische Anziehungskraft zwischen ihnen, dieses perfekte Gleichgewicht von Wahrheit und Liebe, das ich in ihnen sah. Eines Tages fand ich ganz zufällig das folgende Zitat aus Swami Satchidanandas Übersetzung der Yoga-Sutras:
»Die gesamte Welt ist deine Projektion. Deine Werte können sich im Bruchteil einer Sekunde verändern. Heute möchtest du möglicherweise die Person nicht einmal mehr sehen, die gestern noch dein süßer Schatz war.«
Ich las das und wollte es am liebsten auf der Stelle wieder vergessen. Die Worte wirkten auf mich wie eine Beschwörungsformel und riefen mir etwas ins Gedächtnis, das ich seit Monaten zu verdrängen versucht hatte. Jonah mochte Tarotkarten. Und ich liebte ihn dafür. Als ich Jonahs Interesse am Tarot entdeckte, war ich gerührt: Ich stellte mir vor, wie unsere Kinder mit wöchentlichen Tarotsitzungen groß wurden statt mit Kirchgängen, und vielleicht würden wir bei dem einen oder anderen Renaissancefestival vorbeischauen. Ich bekam Lust, Mondsteine zu tragen und Ritterturniere zu besuchen.
Ich war nur mäßig enttäuscht, als Jonah mir erklärte, sein Interesse am Tarot habe weniger mit Magie als mit Jung’scher Psychologie zu tun. Er beschäftigte sich gerne mit Archetypen. Er nahm Karten vom Stapel, breitete sie vor sich auf dem Fußboden aus und setzte sich dann davor und erzählte sich eine Geschichte; dazu nahm er die Archetypen zu Hilfe, die die dunkleren Winkel seines Unbewussten ausleuchteten.
Einmal waren wir spät nachts in seiner Wohnung und tranken billigen Rotwein, als ich fand, es sei jetzt an der Zeit. Wir waren seit über zwei Jahren zusammen. Ich bat Jonah, mir die Karten zu legen.
Wir räumten ein Stück Fußboden frei und dimmten die Lampe. Ich legte den Soundtrack von Die letzte Versuchung Christi auf, eine sehr stimmungsvolle Musik, genau richtig für den Anlass. Aber Jonah fand sie zu klischeehaft. Ich schlug Dead Can Dance oder Enigma vor, etwas mit gregorianischen Chorälen oder stilisiertem Wehklagen. Nix gut.
»Wir wollen uns doch nicht zum Affen machen«, sagte er. »Bei so einer Musik komme ich mir vor wie auf einem Renaissancefestival.«
»Stimmt«, sagte ich. »Renaissancefestival, genau. Wie spießig.« Ich war enttäuscht. Wenn wir schon ein Ritual vollziehen, warum dann nicht aufs Ganze gehen? Es ist doch sowieso alles Theater. Aber mein Wunsch, cool zu sein, war stärker als mein Wunsch nach Trance. Und so freute ich mich auf das Kartenlegen und war froh, dass Jonah wenigstens die Kerzen brennen ließ. Das Licht flackerte auf den glänzenden Karten, als er sie nacheinander umdrehte. Der Tod. Der Magier. Der Turm. Die Liebenden. Ich starrte minutenlang auf die Karten. Und dann überlief es mich heiß und kalt. Ich wollte nicht wissen, was die Karten mir sagten.
Jonah musste etwas gespürt haben, denn er fragte eifrig: »Siehst du was? Siehst du eine Geschichte?«
»Nein, nein«, wehrte ich ab, »ich war nur gerade abwesend.«
Aber das war gelogen. Ich konnte ihm nicht sagen, was ich sah – ich wollte es nicht einmal mir selbst eingestehen. Denn ich hatte verstanden: Du – wirst – diesen Mann – verlassen.
Aber ich liebe ihn doch , widersprach ich. Er ist mein bester Freund.
Aber die Aussage änderte sich nicht.
Sechs Monate später hatte ich ihn immer noch nicht verlassen. Ich flog nach Bali.
Als Indra mir an jenem Abend erklärte, warum ihre Ehe zu Ende gegangen war, wusste ich genau, wovon sie sprach. Ich wollte es nur nicht zugeben, weil mein Impuls, Jonah zu verlassen, mir so egoistisch vorkam. Wie konnte ich eine total intakte Beziehung aufgeben, nur weil ich mich selbst finden wollte? Warum Jonah der Laune einer
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