Bin Ich Schon Erleuchtet
könnte etwas Ernstes sein.
Komisch eigentlich – denn es ist immer etwas Ernstes. Jessica bearbeitet ihre Kindheit und die Beziehung zu ihren Eltern. Wenn sie etwas besonders Belastendes entdeckt, weint sie aus Freude, als habe sie ein hässliches, aber ungeheuer kostbares prähistorisches Fossil ausgegraben. Sie hat mir erzählt, dass sie in ihren Träumen Sex mit ihrer Mutter hat, wozu sie den abgetrennten Penis ihrer Schwester benutzt, den sie lingam nennt. Als sie mir den Traum beschrieb, nannte sie ihn eine »Erinnerung an meine eigene Repression, die notwendige Repression, der wir alle ausgesetzt sind, wenn wir innerhalb der Gesellschaft leben wollen. Aber … diese notwendige Repression entfernt uns so weit von unserem Ursprung! Unserem animalischen Selbst.« Sie schluckte. »Ich will meine Mutter nicht mit dem lingam meiner Schwester lieben, ich will meine Mutter gemeinsam mit meiner Schwester lieben.« Es klang, als hätte sie die Rede auswendig gelernt. »Ich will, dass wir uns alle gegenseitig lieben.«
»Ich weiß, was du meinst«, antwortete ich.
Aber heute auf der Veranda beunruhigte es mich, dass sie schon wieder weinte, deshalb legte ich ihr die Hand auf die Schulter, und sie öffnete die Augen. »Oh, wow«, stieß sie hervor, etwas zu laut wegen der Kopfhörer. »Mein Lehrer redet gerade über den lingam und die yoni , und das erinnert mich voll an Indra und Lou.« Sie seufzte. »Ah! Er ist so super.«
»Was ist das für ein Lehrer?«, fragte ich.
»Gender Clarity. Klärung der eigenen Geschlechtsidentität.« Sie wischte sich ein paar Tränen vom Kinn und betrachtete konzentriert ihren Handrücken, als seien die Tränen Teeblätter. »Hast du Indra und Lou gestern im Reisfeld gesehen?«
Ich verneinte, und sie riss sich die Kopfhörer von den Ohren. »Ah …«, stieß sie hervor, »sie sind so wunderschön!«
»Ja, ich weiß, aber was haben sie gemacht?«
Gestern während der Gehmeditation, erzählte Jessica, wurde sie plötzlich aus ihrem Tagtraum gerissen, als sie merkte, dass Indra und Lou ungefähr drei Meter vor ihr hintereinander durch das Reisfeld schritten. Sie sprachen nicht miteinander, sondern gingen nur in exquisiter Haltung entspannt vor ihr her.
Ich hatte sie auch schon so gehen sehen. Jessica hat nicht unrecht – es ist faszinierend. Man könnte sie für Tänzer halten.
»Sie haben gar nichts gesagt oder so, aber dann …«, Jessica hielt das Gesicht der Sonne entgegen und schüttelte lachend den Kopf, so dass ihre langen Korallenohrringe erzitterten.
»Was ist passiert, Jess?«
Seufzend wischte sie sich die Augen. »Oh Mann. Da war so ein kleiner Graben zwischen dem Ende des einen Pfades und dem Anfang des nächsten, und Lou hat sich zu Indra umgedreht und ihre Hand genommen – stumm, ohne ein Wort! – und ihr drüber weg geholfen!«
Sie lachte und weinte abwechselnd und konnte sich gar nicht beruhigen. Sie musste mir nicht erklären, warum sie das zu Tränen rührt. Ich sehe auch noch oft Indra und Lou vor mir, wie sie an dem Mixer-Abend in ihrem Haus nebeneinander saßen.
Jessica strich sich die Haare aus der Stirn. »Es war einfach so schön«, sagte sie. »Sie lieben sich wirklich. Als Mann und Frau.« Sie seufzte vernehmlich und blickte versonnen auf die grünen Felder. »Als lingam und yoni «, fuhr sie leise fort, »in ihrem tiefsten Wesen.«
Unglaublich, aber wahr: Dieses Mädchen ist authentisch. Sie meint jedes Wort ernst. Diese lingams und yonis kommen direkt aus dem Herzen. Klingt irgendwie eklig, oder? Aber noch irrer ist: Wenn man das, was sie sagt, in eine ekelresistente Alltagssprache übersetzt, verstehe ich ziemlich genau, was sie meint.
Später
Jessicas Tagebuch ist ein Spiralheft, das mit Blumen, Ranken und Sanskrit-Symbolen aus Bastelpapier beklebt ist. Gesichtslose männliche und weibliche Figuren tanzen Hand in Hand am Rand entlang wie gnomenhafte Anziehpuppen. Im Zentrum dieses spirituellen Gartens blühen ihre schönsten Rosen:
Liebende Güte
Achtsamkeit
Gelassenheit
Glückseligkeit
Fülle
Unter die Liste hat sie mit Klebeband ein kleines weißes Teebeutelschildchen geklebt, auf dem steht: Wenn du dich sorgst, betest du um das, was du nicht willst .
Abend
Als ich heute Nachmittag auf dem offenen Teil des Wantilan eine Rückwärtsbeuge machte und dabei auf die Bäume und den blauen Himmel schaute, kam mir der Gedanke, dass ich genau da bin, wo ich sein soll. Eine leichte Brise wehte, und ich stellte fest, dass
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