Bin Ich Schon Erleuchtet
zittrigen inneren Stimme opfern, die mir zu einer Veränderung riet, aber keine Ahnung hatte, wie und warum und wohin die Reise gehen sollte?
Gut, Jonah und mir fiel es fürchterlich schwer, unsere Probleme zu besprechen, aber das lag nur daran, dass wir so viel Spaß miteinander hatten. Eine Diskussion über unsere Zukunft war nicht halb so lustig wie zusammen Horrorfilme gucken oder herausfinden, wie viele Napfkuchen wir in einer Woche in uns hineinstopfen konnten. Keiner wollte die Spaßbremse sein. Deshalb schwankte ich dauernd zwischen der Überzeugung, es sei besser, die guten Seiten unserer Beziehung zu genießen und der lästigen inneren Stimme das Maul zu stopfen, und einem wiederkehrenden inneren Bild, in dem ich auf der Aurora Bridge stand, dem Selbstmörder-Hotspot von Seattle, und mein Leben mit Jonah wie ein Bündel in das dunkle kalte Wasser warf.
Aber manchmal hielt ich auch einen Tapetenwechsel für die Lösung. Vielleicht waren der Umzug nach New York und das Zusammenziehen die Veränderungen, die ich brauchte. Vielleicht konnte ich die Karten Lügen strafen. Wenn das Unbewusste mit unangenehmen Überraschungen ankommt, ignoriert man sie am besten, sonst stellt man noch alle möglichen verrückten Sachen an. Tu einfach so, als wär’s ein Wecker, und hau kräftig auf die Schlummertaste, bis er von alleine Ruhe gibt.
12. März
Unter den Banyanbäumen im Dorf liegen solche Berge von Opfergaben, dass die anderen Bäume grün vor Neid werden. Papayabäume kriegen nichts ab, obwohl sie mir jeden Morgen mein Frühstück liefern. Die aufrechten Kokospalmen haben auch Pech. Ein, zwei Körbchen alle paar Tage, kein Vergleich mit den Banyans. Der Banyanbaum wird ähnlich überhäuft wie manche Tempel.
Heute saßen Jessica und ich stundenlang am Weg zwischen unserem Haus und dem Wantilan unter einem gewaltigen Banyan. Wir redeten über die Liebe. Wir reden ganz schön oft über die Liebe.
In einem Banyanbaum ist es kühl und schattig. Ich sage absichtlich »in«, weil der Raum unter ihm fast so groß ist wie ein Zimmer. Diese Bäume sind echt monumental. Würde ein Ficus ein Stück von diesem wachstumsfördernden Kuchen aus Alice im Wunderland abbeißen, wäre er ganz schnell ein Banyanbaum. Aber was den Banyan wirklich speziell macht, ist sein Stamm. Er besteht aus Hunderten von Luftwurzeln, die sich nach oben hin zu dünnen Stämmen verjüngen, so dass das Ganze wie ein Wald aus Schösslingen aussieht, die sich Trost suchend aneinanderdrängen. Diese astähnlichen Stämme streben in einem unordentlichen Knäuel himmelwärts, verzweigen sich oben geradezu explosionsartig und bilden ein dichtes Blätterdach.
Falls Bäume wie Menschen mit einer Persönlichkeit gesegnet sind, dann ist dieser ekstatische Baum Jessicas Seelenverwandter. Während wir in seinem Schutz saßen, begann Jessica zu weinen. Jessica flennt alle naselang, das ist einer ihrer Prozesse , glaube ich, aber das hier war die euphorischste Art des Weinens, die ich je erlebt habe. Sie legte den Kopf in den Nacken, und ihre Tränen flossen aus glückstrahlenden Augen. Sie drehte den Kopf hin und her und schluchzte: »Oh Suzanne! Er ist einfach so wun-der-schön!«
Su hat mir erklärt, dass Banyanbäume heilig sind, weil jeder Stamm sowohl ein Einzelwesen als auch Teil eines Baumes ist. Jeder Stamm ist ein Geschenk an den Banyanbaum und gleichzeitig der Banyanbaum selbst. Deshalb bekommt er all diese feinen Opfergaben; der Banyanbaum symbolisiert das Wesen aller Existenz.
Lou chantet in der Klasse immer noch seine Kyries , und ich chante neuerdings mit, aber wenn ich Kyrie Eleison singe, denke ich Banyan Eleison . Banyan, erbarme dich. Ich werde allmählich zur Heidin. Indra hat mir geraten, auf diese Art an Gott zu denken. Sie nennt Gott den Großen Zucchini. Ich konterte, es sei aber doch eine Schande, dass sogar ihr Gemüsegott phallisch sein muss.
13. März
Heute bin ich wieder mal über die weinende Jessica gestolpert, aber diesmal saß sie in ihren losen Baumwollhosen und ihrem weißen Tanktop auf der Veranda und lauschte ihrem gelben Walkman. Mich blendete die Sonne – ich hatte mich oben im Haus nach einem kräftigen Mittagessen aus grünen Blättern und fermentierten Sojabohnen kurz hingelegt und brauchte einen Moment, um mich an die Helligkeit zu gewöhnen. Ich ging neben Jessica in die Hocke und legte ihr die Hand auf die Schulter. Ich weiß, es ist ihr Prozess, aber wenn ich sie weinen sehe, habe ich immer Angst, es
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