Bin Ich Schon Erleuchtet
Blüten und Bonbons mitgenommen und den Rest auf ihrem Tablett an der untersten Verandastufe stehenlassen. Sie hat das Blatt auf den Altar gestellt und den Weihrauch angezündet, und jetzt taucht sie eine Lotosblüte in eine Schüssel Wasser und besprengt mit einer anmutig fließenden Bewegung ihres Handgelenks den Altar. Bei dieser Geste schließt sie die Augen, legt die freie Hand zwischen die Brüste und betet mit geneigtem Kopf. Es ist ein zauberhafter, einfacher Tanz, ein Tanz, den ich seit unserer Ankunft jeden Morgen gesehen habe, aber heute fasziniert er mich. Su wird von diesem Ritual verwandelt. Das schüchterne, kichernde Mädchen sieht auf einmal älter aus. Reifer. Andächtig dient sie dem Unsichtbaren.
In diesem Opfergaben-Tanz, den Su jeden Tag vollzieht, finde ich Vertrautes. Und auch das eigenartige Sehnen, das ich beim Beobachten empfinde, ist mir vertraut und angenehm.
Wie es wohl wäre, an das Unsichtbare zu glauben? Aus ganzem Herzen daran zu glauben?
Su hebt die Arme. Sie legt die Hände zum Gebet zusammen. Sie neigt den Kopf. Sie ist mir fremd, ihr Tanz ist fremdartig und doch so vertraut. Ihr Opfer wirkt auf mich, anders als in den ersten Tagen, nicht mehr wie eine lästige Pflichtübung. Sondern wie etwas, das ich auch einmal tun wollte, bevor man mir sagte, dass ich das nicht dürfe, weil ich ein Mädchen sei.
Jessica sitzt unter der Lampe, um die so viele Nachtfalter schwirren, dass sie zu flackern scheint. Sie schreibt in ihr Spiralheft und sieht mich hin und wieder leicht geistesabwesend an. Dabei lächelt sie mir zu, wie eine Mutter ihrem Kind nach dem ersten Tag im Kindergarten zulächelt. Su ist fort, und der Himmel ist dunkel. Uns umgibt grüner Wald, der blaue Schimmer da unten ist tagsüber der Pool. Die Nachtfalter haben die Morgenameisen abgelöst, und die krächzenden Geckos stehlen vorübergehend den Hähnen die Show.
Die Welt ist transformiert, nicht wiederzuerkennen. Hier bin ich. Ich, und doch nicht ich.
4.
Erwachen, Wiedererwachen
Die Welt ist tief,
und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra
Ach Gott, wie schön wäre es, wenn meine Geschichte hier zu Ende wäre! Ich hätte mich in die Schar der Erlösten eingereiht, und meine spirituelle Reise hätte ihren glorreichen Schlusspunkt. Aber das wäre geschwindelt. Mein Kundalini-Durchbruch war nicht das Ende meiner spirituellen Reise, obwohl es eine Zeitlang so aussah. Nein, er stand am Anfang eines Wegs, der nur noch holpriger wurde. Die spirituellen Serpentinen häuften sich, und der Schleier der Illusion war zeitweise so dicht und undurchdringlich wie die düsterste, bedrohlichste Wolkendecke über Seattle.
Genau das hatte ich in der Religion gesucht: Ekstase. Ich hatte mein Leben lang darauf gewartet, von einer spirituellen Praxis buchstäblich ergriffen zu werden, und nun war dieser Fall anscheinend eingetreten. Aber was hatte den Anfall ausgelöst? Die ganze Idee einer Kundalini-Erfahrung beruht doch darauf, dass in unserer Welt und unserem Körper eine spirituelle Ordnung am Werk ist, oder? Wenn ich an meine Kundalini-Erfahrung glauben wollte, musste ich wohl an den Gestalter einer solchen Erfahrung glauben. War die Veränderung rein physischer Natur? Hatte ich durch die Arbeit an Geist und Körper ein umfassenderes Bewusstsein kultiviert? Oder hatte ich etwas Ewiges angezapft? Ich wusste es nicht. Ich weiß es bis heute nicht.
Im Sommer 2009 begegnete ich einer Frau, die ich für eine spirituelle Therapeutin halte. Damals wusste ich das nicht – ich dachte, sie sei schlichtweg eine Therapeutin, fertig. Wir trafen uns auf ein Glas nach einer Vorstellung in Memphis und kamen bald auf Bali und Yoga zu sprechen, und als wir meine Kundalini-Erfahrung anschnitten, spielte ich sie herunter. Ich sei mir nicht sicher, sagte ich, ob ich überhaupt an solches Zeug glaube. Ich wollte unbedingt, dass mich die Frau für voll zurechnungsfähig hielt. Also quatschte ich weiter: Womöglich hätte ich ja hyperventiliert, und alles war nur eine neurologische Reaktion auf die Hyperventilation. Oder der Anfall wurde von einem Gehirntumor ausgelöst, der in den folgenden sieben Jahren seine Aktivität eingestellt hatte. Ich schmunzelte über meinen kleinen Scherz, und dann wurde mir plötzlich mulmig. Wenn es nun wirklich ein Gehirntumor
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