Bin Ich Schon Erleuchtet
Wantilan, auf einem Territorium, das mir eigentlich hätte vertraut sein müssen, war ich auf einmal gehemmt. Dieser Club schien uns alle befangen zu machen, nicht nur mich. Wir saßen auf einer Insel der Nüchternheit inmitten einer See von Alkohol. Meine Mit-Yogis und ich nippten still an unseren Fruchtsäften, trommelten mit den Fingern auf die Tischplatte und beäugten die Menge, als wüssten wir nicht mehr, wie man sich in die normale Gesellschaft integriert. Ich bin erst einen Monat von zu Hause weg und spüre schon eine grundlegende Veränderung an mir. Ich weiß nicht mehr, was ich in einer Bar mit mir anfangen soll. Ich wollte zu allen, die zufällig vorbeigingen, Augenkontakt aufnehmen. Vielleicht liegt es an dieser Tiefatmung oder am Meditieren, auf alle Fälle fühle ich mich zu offen für das hier. Mein Zustand bringt eine Form von Wildheit mit sich, die den Wantilan als Schutzraum braucht; draußen in der Welt ist sie fast gefährlich. Als sähe ich zu viel.
Wir hatten alle unsere kleinen Tricks. Jason versteckte sich hinter einer Zeitschrift – einem dieser spirituellen Revolverblätter, in denen die Interviewten gewichtige Pausen machen, bevor sie etwas ungemein Weises von sich geben. Er hatte sie in seinem Stoffbeutel mitgebracht und las stumm. Gelegentlich hob er den Blick, um die Band zu betrachten, und versenkte sich dann gleich wieder in seine Lektüre. Jessica und Lara saßen auf der anderen Seite neben mir und unterhielten sich leise über den Unterschied zwischen Satchitanandas und Desikachars Interpretation der Sutras. Ich verkroch mich hinter meiner Kamera. Ich brauchte einen Filter für die Augen. Es war so viel leichter, die Leute durch eine Linse hindurch anzustarren.
Jessica stand schließlich als Erste auf und zog alle mit auf die Tanzfläche. Sie tanzt für ihr Leben gern, sie gehört zu einer Ecstatic-Dance-Gruppe, die die »5 Rhythms« praktiziert, eine Bewegungspraxis, bei der man fünf verschiedene Rhythmen tanzt, bis man in einen ekstatisch-meditativen Zustand verfällt. Aber witzigerweise war sie auf der Tanzfläche überhaupt nicht die ätherische Hippietänzerin, die ich mir vorgestellt hatte. Sie tanzt viel eher Hip Hop als abgespaced. Ihre Bewegungen sind schnell und präzise und sogar ziemlich aggressiv.
Bald waren alle meine Mit-Yogis auf der Tanzfläche, nur ich blieb noch eine Weile sitzen, weil schließlich jemand auf unsere Sachen aufpassen musste.
Das Alleinsein war genial. Ich habe hier so wenig Zeit für mich, wenn wir nicht gerade meditieren. Aber eins ist mir aufgefallen. Ich habe gelernt, mich ganz auf mich selbst zu konzentrieren, wenn ich mit Jessica in die Stadt und zurück laufe. Und auch im Unterricht. Beim zwanzigsten Sonnengruß vergesse ich im Normalfall, dass Menschen um mich sind. Und Jessica ist eine echt unkomplizierte Mitbewohnerin. Ich kann alles machen – schreiben, stretchen, meditieren, nachdenken –, als wäre ich allein im Haus, und nur hin und wieder merke ich, dass Jessica gerade mal eine Armlänge entfernt ist. Okay, ich werde nicht anfangen, vor ihren Augen Intimspülungen zu machen – so weit kommt’s noch –, aber ansonsten könnte mir dieses Leben gefallen.
Yogis unterscheiden sich im Grunde nicht so sehr von Schauspielern. Vor den Proben tun Schauspieler Dinge, die normale Leute sehr befremdlich fänden – wir hecheln wie Hunde, wir vollführen seltsame Dehnungen, wir sagen Zungenbrecher auf. Ein Schauspieler wird sich nie wundern, wenn du mitten im Raum auf dem Rücken liegst und wie eine Biene summst.
So ähnlich ergeht es mir mit meinen Mit-Yogis. Sie sind eigentlich gar nicht so anders als ich.
Jessica winkte mir auffordernd zu, aber ich tat, als hätte ich sie nicht gesehen und hob die Kamera vors Gesicht. Ich machte ein paar Aufnahmen von meinen herumwirbelnden Freunden – beziehungsweise von den verschwommenen Gestalten, die ich für meine Freunde hielt. Dann musste ich an das Mantra denken, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht: Dem Sterben sind meine Mit-Yogis unterworfen. Dem Sterben bin ich unterworfen . Und dann richtete ich das Objektiv auf alle möglichen Ecken im Raum.
Der Club hatte sich gefüllt. Ich betrachtete ihn durch meine Kameralinse. Für ein paar Sekunden erschien ein langhaariger, balinesischer Hipster im Sucher, dann ein paar gaffende Europäer, flankiert von schicken, wettergegerbten Asiatinnen. Die sonnenverbrannten Männer lagerten rauchend und schwitzend in zerknitterten Leinenhosen
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