Bin Ich Schon Erleuchtet
war? Muss ich sterben?
Manchmal ist mir diese Kundalini-Geschichte peinlich. Mein Kundalini-Erwachen. Mein Erwachen der Kundalini Shakti , meine ich. Du lieber Gott, gibt es etwas Peinlicheres als den Satz: »Ich habe meine Kundalini Shakti erweckt?« Er klingt, als würde ich demnächst eine Einladung zu einem Weizengraseinlauf verschicken.
Blöderweise kann ich, so ausgiebig ich mein Gehirn die Erfahrung auch analysieren lasse, nicht zu der Überzeugung gelangen, dass es kein spiritueller Durchbruch war. Das Meditieren fiel mir danach leichter, und eine Weile hatte ich den Eindruck, echte spirituelle Fortschritte zu machen.
»Wissen Sie, was Ihr Problem ist?«, fragte mich die Therapeutin. »Sie haben Angst, reingelegt zu werden.«
Damit rannte sie bei mir offene Türen ein. Ich wusste genau, was sie meinte. Das Thema ist mir alles andere als neu. Ich hasse es, reingelegt zu werden. Aber manchmal frage ich mich, ob das wirklich so entscheidend ist. Wenn ich mein Leben lang an ein Religionssystem glaube, in dem es einen allwissenden Schöpfer und ein Leben nach dem Tode gibt, und dann sterbe ich, und es gibt keinen Himmel, keinen Gott, kein Wiedersehen mit meinen Großeltern – wäre das so schlimm?
Nein. Ich wäre tot. Es würde mir nicht auffallen.
In der Zwischenzeit hätte ich alle Vorteile, die mit dem Glauben verbunden sind – Seelenruhe, die Fähigkeit, im Augenblick zu leben, ohne dauernd Angst vor dem Tod zu haben. Ein Wertesystem, das mir Ehrlichkeit und Disziplin vermittelt. Wenn ein Placebo die Symptome einer Krankheit kurieren kann, wen stört es dann, dass die Pille aus Zucker besteht?
Tja, mich. Das ist das Problem.
Es wäre super, wenn ich meine ewige Angst, reingelegt zu werden, meinen Eltern in die Schuhe schieben könnte. Alles ist leichter, wenn ich ihnen die Schuld geben kann. Ich entstamme nämlich einer interkonfessionellen Ehe. Aufgewachsen bin ich als Katholikin, aber mein Vater gehört einer Episkopalkirche an. Als er meiner Mutter einen Heiratsantrag machte, sagte sie ja – aber nur, wenn er einverstanden wäre, die Kinder katholisch zu erziehen. Er war einverstanden, aber er hatte auch eine Bedingung: Seine Kinder sollten staatliche Schulen besuchen.
So starteten meine Eltern ein Familienexperiment, das tolerante, aber gläubige Erwachsene hervorbringen sollte – ein gefährliches Experiment in Anbetracht der erheblichen Einflussnahme der katholischer Kirche und der weltlichen Schulen. Wir lernten als Kinder Menschen vieler Glaubensrichtungen kennen, besuchten am Sonntag die Messe und am Montag die staatliche Schule, und am Ende ließen sich drei der vier Kinder meiner Eltern firmen.
Mein Vater wollte, dass wir selbständig denken lernten. Jeden Tag verwandelte er, wenn er aus seiner Anwaltskanzlei zurück war, unseren Esstisch in einen Debattierclub in Kleinformat. Mein Vater brachte meinen Geschwistern und mir bei, eine Behauptung niemals ohne weiteres hinzunehmen; eine nachgeplapperte Meinung war an unserem runden Tisch der Erzfeind. Wenn wir ein Argument nicht mit Beweisen stützen konnten, verwarf es mein Vater. Ich hörte zu, wie er seine Argumentationsketten aufbaute, und wollte so sein wie er – außerdem hätte ich seine rationalen ökonomischen Argumente gerne mit meinen sentimental-menschenfreundlichen entkräftet. Aber ich wollte nicht als gefühlsbetont gelten oder fremde Meinungen als eigene ausgeben. Ich wollte selbständig denken.
Meine Mutter ist der verträumte, spirituelle Typ. Sie ist Musikerin, und als ich klein war, bemühte sie sich sehr, eine gute katholische Mutter zu sein, die über die Jungfräulichkeit ihrer Töchter wacht und ihnen einschärft, dass Scheidung und Abtreibung keinesfalls in Frage kommen. Aber seitdem ihre Kinder älter sind, kommt allmählich ihr wahres Ich zum Vorschein – eine unorthodoxe Katholikin, die den Vorschriften folgt, an die sie glaubt, und den Rest ignoriert. Sie hat sich immer bemüht, den strengen katholischen Gott würdig zu vertreten, aber schon als Kind wusste ich, dass ihr Glaube eher ein Künstlerglaube war. Sie findet ihren Gott in der Schönheit und vor allem in der Natur. Jeden Sommer verbrachte meine Familie eine Woche an der Küste im Haus meines Großvaters, und bei Sonnenuntergang nahm meine Mutter uns Kinder mit auf lange Strandspaziergänge. Wir sammelten Muscheln und Steine und sahen zu, wie die Flut stieg. Und wenn die letzten Sonnenstrahlen sich auf das Meer ergossen, ergriff sie unsere
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