Bin Ich Schon Erleuchtet
loslassen? Zurückfallen in einen Zustand vor meiner Befreiung? Warum zum Kuckuck sollte ich diese Euphorie, diese Furchtlosigkeit aufgeben und wieder zu einer Person werden, die ich am liebsten tief in die Vergangenheit verbannt hätte?
Sollte ich nicht lieber auf mein Bauchgefühl hören? Das sagte mir, ich hätte lange genug Unsicherheit und Angst ausgestanden und würde die neu gewonnene Klarheit und Kraft nicht kampflos wieder aufgeben. Und warum um alles in der Welt sollte ich, wo mich nun alle wie eine erleuchtete Weise anhimmelten, sie eines Besseren belehren?
26. März
Als meine Urgroßmutter Nomma starb, war ich vier oder fünf, und sie war die erste Person, deren Tod mich direkt betraf. Meine Mutter erklärte mir, sie sei im Himmel. Ich stellte mir den Himmel als ein schönes Zimmer mit hohen Decken und roten Samtvorhängen an den Fenstern vor, in dem irgendjemand alle Fragen beantwortete, die sich im Leben so ansammelten.
Leben, Tod, was hatte es mit diesem komplizierten und traurigen Spiel auf sich? Dass das Leben ein Spiel ist, wusste ich, weil man mir sagte, es gäbe am Ende Gewinner und Verlierer. Und dass es traurig war, wusste ich auch, denn ich sah Oma weinen und hörte sie davon reden, dass ihr Herz gebrochen sei. Nomma war ihre Mutter. Wenn Omas Mutter sterben konnte – wenn überhaupt eine Mutter sterben konnte –, wozu dann alles? Ich glaubte, Nomma säße in diesem schönen Zimmer und bekäme jetzt die Antwort, und wenn ich an der Reihe wäre, würde mich Nomma auf ihren Schoß heben und meine dünnen Babylöckchen streicheln, während sie ihr vollkommenes Wissen an mich weitergab.
Dieses Zimmer erschien mir, als ich klein war, häufig in meinen nächtlichen Träumen und Tagträumen. Für mich war es der Ort, von dem ich kam und zu dem ich eines Tages zurückkehren würde.
Rote Vorhänge? Hohe Decke? Eine Erinnerung an die Gebärmutter womöglich?
Es war ein friedlicher, verträumter Ort.
So ungefähr fühlt sich neuerdings das Meditieren an. Als würde ich in einen vertrauten, verträumten Ort eintauchen, wo ich nur noch eine Seele bin, die darauf wartet, geboren zu werden.
27. März
Indra und Lou sind wunderbar hilfsbereit und liebevoll.
Heute riet mir Indra immer wieder, ich solle mein Tempo drosseln und atmen. Sie sagte, ich sei in einem tiefgreifenden emotionalen und physischen Wandlungsprozess begriffen und sollte nichts erzwingen, sondern mich auf meinen Atem konzentrieren.
Das will ich nicht. Es geht mir supergut, spirituell gesehen. Alles läuft wie von alleine, vom Meditieren bis zu den Balanceübungen. Ich will mich nicht nur auf meinen Atem konzentrieren. Ich will mich ausdehnen und losfliegen.
Später
Lou und ich sind auf einer spirituellen Ebene miteinander verbunden, die keiner auch nur ansatzweise verstehen kann.
Er ist hellsichtig.
Und ich auch.
Ich habe ihm heute im Unterricht eine Botschaft geschickt. Wir haben meditiert, und ich beschloss, ihn zu testen.
In den vergangenen Wochen hat Lou gelegentlich erwähnt, dass sich mein Kopf bei geführten Meditationen etwas nach rechts dreht. Beim Klavierunterricht ist mir das auch immer passiert – ich glaube, es liegt daran, dass ich mit dem linken Ohr besser höre. Das ist jedenfalls meine Theorie.
Wir meditierten ohne Anleitung. Und ich redete im Geist mit Lou: Lou, sag mir, ob ich den Kopf nach rechts drehe .
Ich schwöre bei Gott, dass Lou sofort reagierte, und zwar laut und deutlich. Er sagte: »Suzanne, dein Kopf ist nicht gedreht. Deine Position sieht gut aus.«
Ich will immer so weitermachen. Ich will nie wieder nach Hause.
28. März
Seit wir hier sind, habe ich meine Mit-Yogis mit einer Million Fragen bestürmt: Was genau ist Chatturanga Dandasana ? Worum geht es in den Yoga-Sutras wirklich? Warum muss ich beim »Pferd« durch meine Vagina atmen?
Und jetzt? Jeden Abend setzen wir uns auf unserer Veranda um den Tisch, während die letzten Tropfen der flüssigen Sonne auf unsere glänzenden Fliesen tropfen, und meine Mit-Yogis stellen mir eine Frage nach der anderen über meine Kundalini-Erfahrung. Wenn ich spreche, beugen sie sich vor und hören zu.
Es ist wie damals in der sechsten Klasse. Ich fühle mich wie mit elf oder zwölf, nur bin ich diesmal das Mädchen, das als Erstes seine Periode bekommt, und alle anderen wollen wissen, wann sie endlich auch in den Club aufgenommen werden.
Wie ich meine Mit-Yogis liebe! Ich habe das Gefühl, sie jetzt erst wahrhaftig und im Innersten zu
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