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Bin oder die Reise mach Peking

Bin oder die Reise mach Peking

Titel: Bin oder die Reise mach Peking Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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mit weißen Zähnen. Auch sie stand im lallenden Wasser, barfuß. Ihre Arme, ihre Schultern waren bloß, glänzend vor Nässe, sonst hatte sie ihr Kleid bereits wieder umgenommen, ein lumpiges und fetziges Zeug, so gut es in der Angst und Eile gelungen war … Natürlich fand ich es schade, jedesmal, soof ich jene rostige Tonne, die nun einmal am Strande der Erinnerung liegt, auch in späteren Jahren wieder betrat. Man weiß, wie es war, und dennoch kann man es nicht lassen, jedesmal wieder hineinzugucken –
    Bin wartete drüben an der Straße, als wäre nichts geschehen. Es war ja auch nichts geschehen. Er hockte auf einem Meilenstein, futterte Beeren aus der kleinen Schüssel seiner hohlen Hand, und es war Morgen, die Sonne stand wie eine goldene Garbe über dem braunen Land. Ich sagte:
    »Hast du den Adler gesehen – vorhin?« Bin, wortlos, schüttete sich den letzten Segen in den Mund, indem er nach Bubenart unter den Handrücken schlug, so daß ihm die Beeren in den offenen Gaumen flogen; dann klatschte er sich die Hände, erhob sich und sagte:
    »Gehen wir?«

    N och immer habe ich Rapunzel, meiner Frau, keine Karte geschrieben … Gewiß: noch sind wir auch nicht in Peking.
    Einmal sitzen wir in einer Pinte am Gassenrand.
    »Es ist komisch«, sagte ich – »Was?«
    »Wenn wir nicht wissen, wie die Dinge des Lebens zusammenhängen, so sagen wir immer: zuerst, dann, später. Der Ort im Kalender! Ein anderes wäre natürlich der Ort in unserem Herzen, und dort können Dinge, die Jahrtausende auseinanderliegen, zusammengehören, sich gar am nächsten sein, während vielleicht ein Gestern und Heute, ja sogar die Ereignisse eines gleichen Atemzuges einander nie begegnen. Jeder weiß das. Jeder erfährt das. Ein ganzes Weltall von Leere ist zwischen ihnen. Man müßte erzählen können, so wie man wirklich erlebt.« »Und wie erlebt man?«
    »Du hast es selber gesagt: daß Dinge, die wir für Erinnerung halten, Gegenwart sind. Ich hatte noch nie darüber gedacht, ich fühlte nur öfer und öfer, daß die Zeit, die unser Erleben nach Stunden erfaßt, nicht stimmt; sie ist eine ordnende Täuschung des Verstandes, ein zwanghafes Bild, dem durchaus keine seelische Wirklichkeit entspricht. Wer es wüßte, wie die Träume ineinander wurzeln, auseinander wachsen!«
    »Was, meinst du, hätte er gewonnen?« »Er hätte noch viel zu erzählen, denke ich, fast alles –«
    Wir saßen in einer Pinte am Gassenrand, wie gesagt … Noch war das nicht Peking, wir fanden die Häuser aus der Nähe so klein, so winzig und spielzeughaf, daß man sich an der Dachtraufe, was es in diesen Landen allerdings nicht gibt, hätte halten können und Mühe hatte, sie ernst zu nehmen.
    »Herrgott«, murrte Bin, »ihr Lebenden mit
eurem Ernst ohne Maßstab! …«
Ein Mädchen brachte uns Wein.
    Wie anders ist die Luf hier! Sie tönt. Sie tönt wie ein Spinett, so drahtig, so kindlich spröde, und die Töne laufen auf gläsernen Stelzen; ein Windstoß scherbelt sie weg – dann, hinten herum, kichert es wie Mädchenlachen. »Trinken wir!« meinte Bin.
    »Die Zeit ist ein sonderbar Ding!« sagte ich. »Einmal habe ich eine Liebe verloren. Lange ist's her. Aber es hört nicht auf, daß ich sie verloren habe.« »Was ist denn Schlimmes dabei?«
    »Schlimm?« versetzte ich, besann mich und nahm einen Schluck. »Seit ich eine von ihnen verloren habe, dünkt es mich, ich liebe sie alle. Ich möchte sie immer noch einmal verlieren, verstehst du? Maja hieß sie, ein liebes Mädchen. Lange ist's her! Aber es hört nicht auf, daß ich sie verloren habe –«
    Trinken wir!
    Ein wenig reute mich stets die Zeit. Ich hatte in der Folge dieser inneren Unrast auch schon ein zweites, drittes oder viertes Glas gekippt, während Bin noch immer über seinem ersten saß. Vielleicht war es eine Spelunke, wo wir uns befanden. Goldfische schwammen in einem grünen Glas, und wenn man mit dem Finger daran klopfe, schössen sie weg; dann wieder schwebten sie über einem winzigen Urwald, schnaufen mit ihren lautlosen Kiemen, ließen hin und wieder ein Bläschen an die Oberfläche steigen, eine Perle, die einen Augenblick auf dem Wasser schwamm und dann verging. So verbrachten sie den Tag. Manchmal zuckten sie auch mit dem Schwanz, der so dünn war, daß das Licht ihn durchschimmerte, und stießen in die Tiefe, wo es Sand und leere Muscheln gab, oder sie drückten wieder ihre roten Nasen ans Glas und schauten sich die Leute an. Diese hockten auf einer Art von Matten,

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