Binärcode
Arbeitsgespräch zu konzentrieren.
»Und Charli?«
»Aortenbogen durchschossen«, sagte Wedel. »Sie hatte nicht den Hauch einer Chance .«
»Warum hat er mich nach meinem Sturz nicht auch erschossen, ich lag doch wie Wildbret auf dem Tablett .«
»Vielleicht war er in diesem Moment schon auf der Flucht, die Wendeltreppe im Bunker runter und raus durch den Bretterzaun .«
»Augenzeugen?«
Wedel stellte sich breitbeinig auf und fuhr sich mit der Hand durch die glänzende Tolle.
»Das ganze Areal wird derzeit nur von ein paar Pennern als Nachtlager und von zwei Dutzend kiffenden Skatern in Schlabberhosen genutzt, die sich in den alten Hallen ein paar Halfpipes zusammengeschraubt haben. Wir haben die ganze Bande befragt, sind nicht gerade die idealen Kooperationspartner, was polizeiliche Ermittlungen angeht, die gehen sofort in Fundamentalopposition. Und wenn diese Typen zu irgendeinem Zeitpunkt gar nichts mitbekommen, dann ist das ein Samstagvormittag .«
Rünz verspürte zum ersten Mal seit seinem Dienstantritt im Präsidium Südhessen vor über 20 Jahren Appetit auf das Kantinenessen, er versuchte aufzustehen. Wedel sprang ihm behände zur Seite und zog den Stuhl etwas zurück, wie ein zuvorkommender Zivi im Altersheim. So weit war es gekommen.
Auch Bunter schien die Situation unangenehm, er kramte in den Unterlagen wie auf einem Wühltisch herum und zog ein kleines Tütchen hervor.
»Ach ja, den hier haben wir noch vergessen: einen kleinen Doppelbartschlüssel, haben wir in der Coin pocket seiner Jeans gefunden. Schätze, der Mörder hatte keine Zeit, ihn richtig sorgfältig zu durchsuchen. Herstellercode und Kennnummer sind abgeschliffen, keine besonderen Sicherheitsfeatures. Die Dinger werden für leichte Tresore benutzt, Wertsachenfächer in Schwimmbädern und Hotels. Wir haben ein Foto an alle Hersteller gemailt, die infrage kommen .«
* * *
Zum ersten Mal seit Charlis Tod saß er wieder in der Kantine des Präsidiums. Einige Kolleginnen und Kollegen kamen an seinen Tisch, begrüßten ihn, erkundigten sich nach seinem Befinden. Er gab sich kurz angebunden mit knappen Antworten, schließlich ließen sie ihn in Ruhe. An der Wand hing ein großes Porträtfoto von Charli, darunter lehnten ein paar Kränze und verwelkende Blumen. Laut Wedel war die gesamte Belegschaft zehn Tage mit schwarzen Armbinden herumgelaufen, jetzt schien keiner mehr von der kleinen Gedenkstelle Notiz zu nehmen. In ein oder zwei Wochen würde der Hausmeister das Foto abnehmen und im Archiv einlagern, die Blumen in der Biotonne entsorgen. Charli war dann Geschichte. Er schaute ihr Foto an und spürte, wie auf dem riesigen Berg aus Schuldgefühlen, den er sein Leben lang mit sich herumtrug, ein neues Gipfelkreuz errichtet wurde. Leider war von seinem Schwager Brecker weit und breit keine Spur zu sehen, eine seiner hirnverbrannten Geschäftsideen war jetzt genau das Richtige, um Rünz auf andere Gedanken zu bringen.
Er hatte sich Kartoffelsalat und Frikadellen mit Mayonnaise auf sein Tablett geladen – Speisen, denen er sich vor seinem Krankenhausaufenthalt aus hygienischen Gründen nicht einmal genähert hätte. Vielleicht war sein Hirntumor just an der Stelle lokalisiert, die auch für seine Emetophobie verantwortlich war? Allein am Tisch sitzend kicherte er wie ein einsamer, kleiner Idiot. Die Aussicht, durch eine todbringende Erkrankung von einer Angstneurose geheilt zu werden, hatte etwas Tragikomisches. Erst als er die tadelnden Blicke von den Nebentischen bemerkte, hörte er auf zu lachen. Er erfüllte nicht die sozialen Erwartungen der Kollegen, er schämte sich nicht für das, was geschehen war, und sie schienen ihn dafür zu verachten. Jeder wusste inzwischen, wie die Sache auf dem Knell-Gelände gelaufen war, dass er vorschriftsmäßig vorgegangen war und Charli unmöglich hatte retten können, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen. Aber die Vorschriften waren nur die eine Seite der Medaille. Er hatte die eherne, ungeschriebene Regel gebrochen, er war ein Mann und hatte eine Frau im Stich gelassen. Mehr als das – er war ein Polizist. Polizisten hatten Frauen und Kinder unter Einsatz ihres Lebens zu beschützen. Wenn jemand sterben musste, dann er und nicht die Unschuldigen. Das war die einzige Vorschrift, die wirklich zählte.
Aber wie immer in solchen Situationen tröstete ihn die Vorstellung, alles sei eine Illusion, Ergebnis seiner Projektionen, sie dachten wahrscheinlich an gar nichts
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