Binärcode
Nauheimer Straße näherte sich eine Gruppe Asiaten, die schon in einiger Entfernung ihre Kameras zückten. Selbst im Winter machte eine Touristengruppe nach der anderen ihre Runde um das Hundertwasserhaus. Amerikaner, Japaner, Franzosen, Engländer –, alle fotografierten die immergleichen Motive, versuchten, durch die Fenster der Wohnungen einen Blick ins Innere zu werfen wie Zoobesucher am Raubtierkäfig. Eine schwarze Mercedes G-Klasse mit mächtigem Kuhfänger vor dem Kühler stand auf dem Bürgersteig, die Insassen waren wohl zu bequem, um auszusteigen, mächtige Teleobjektive ragten aus den Seitenfenstern. Auf weltweit Tausenden privater Computerfestplatten mussten schon Terabytes ähnlicher Aufnahmen liegen – vergoldete Türmchen, bunte, bauchige Wände, schiefe Vor- und Rücksprünge, verspielte Fliesenmosaike und wulstige Säulen, die mit kindlichem Trotz die klare geometrische Form zu meiden suchten. Die Fassade war einem geologischen Sediment gleich in erdigen Tönen horizontal gebändert – oberbayrische Lüftlmalerei für Anthroposophen. Das Ganze wirkte, als hätte ein gigantischer alkoholisierter Konditor eine riesige Keksform in den Untergrund gesteckt, den Inhalt hier abgesetzt und dann mit kandierten Früchten, Petits Fours und gespritzten Sahne- und Schokohäubchen verziert. Der Grundriss glich einem nach Süden offenen U, das Dach stieg einer langen gekrümmten Rampe gleich vom Ende des westlichen Schenkels von ebenerdigem Niveau gleichmäßig bis zur Maximalhöhe auf der Ostseite an, eigentlich ein ideales offenes Parkdeck, aber der alte Friedensreich hatte natürlich einen Dachgarten mit ordentlich Grünzeug anlegen lassen. Die ganze Anlage deprimierte Rünz. Die Waldspirale war das Taj Mahal der Globulianer, ein gebautes Manifest gegen Geometrie, Technik, Aufklärung und Wissenschaft, sie bediente wie kein anderes Gebäude in Darmstadt die naive Sehnsucht vieler urbaner Menschen nach Natürlichkeit – als wären Städte jemals etwas anderes gewesen als Trutzburgen gegen die Unberechenbarkeiten der umgebenden Natur. Das Attribut ›natürlich‹ hatte eine verhängnisvolle Bedeutungsmetamorphose hinter sich und war inzwischen auf eine erbarmungswürdig einfältige Art positiv besetzt. Seine Frau benutzte es im Zusammenhang mit pflanzlichen Medikamenten gerne als Synonym für ›harmlos‹, ›unbedenklich‹ und ›frei von Nebenwirkungen‹. Er assoziierte mit diesem Begriff Bandwürmer, Hyänen und Ebolaviren. Sie hatte ihm hier vor der Jahrtausendwende eine Wohnungsbesichtigung schmackhaft zu machen versucht – er hatte erstmals seit ihrer Hochzeit mit Scheidung gedroht.
Rünz holte noch einmal tief Luft und ging dann zurück in die Wohnung. Die Kriminaltechnikerin hatte auf der Arbeitsplatte der kleinen Wohnküche ihre mobile Laborausrüstung aufgebaut. Sie trug einen weißen Einweg-Overall, sah aber nicht halb so sexy aus wie die Spezialistinnen der einschlägigen US-amerikanischen Polizeiserien. Aber irgendwie erschien sie verändert, sie hatte nicht mehr den fahlgrauen Kettenraucher-Teint und seit Rünz’ Anwesenheit nicht einmal zur Zigarette gegriffen.
»Was ist mit dem Loch in der Eingangstür ?« , fragte sie. »Hat der Eigentümer mit einer Schrotflinte um sich geschossen ?«
»Habe mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr gesprochen. Die Jungs sind da mit der Löschlanze durchgegangen. Die wollten einen Backdraft vermeiden, durchs Außenfenster war nur Rauchgas zu sehen, keine Flammen mehr .«
Sie hatte ein handliches kleines Photoionisations-Spektrometer, mit dem sie auf der Suche nach flüchtigen Bestandteilen von Brandbeschleunigern in der Raumluft wenige Zentimeter über dem stinkenden Teppichboden wedelte, wie eine kleine Ente quer durch das Wohnzimmer watschelnd. Ihre Hand zitterte merklich, und Rünz ahnte, wie ihr der Nikotinentzug zu schaffen machte. Er schaute sich um und versuchte, aus den Überresten des Brandes den ursprünglichen Zustand der Wohnung zu rekonstruieren. Von der schmierigen Rußschicht abgesehen, die die gesamte Inneneinrichtung wie ein Trauerschleier überzog, gab es nichts, was er nicht auch in irgendeinem anderen der Millionen junger weiblicher deutscher Singlehaushalte erwartet hätte, deren Bewohnerinnen ihre Existenz als PR-Assistentinnen, Fremdenverkehrskauffrauen und Pharmareferentinnen fristeten oder irgendwas mit Medien machten, sich abends DVDs mit Renée-Zellweger- oder Hugh-Grant-Filmen ausliehen, in Singlebörsen chatteten oder
Weitere Kostenlose Bücher