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Titel: Binärcode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gude
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solchen Spezialinteressen konnte er sich den Weg zum Klinikkiosk sparen. Er versuchte sich abzulenken, ging in Gedanken noch einmal die Zeugenaussagen der Nachbarn im Hundertwasserhaus durch. Dann vertrieb er sich eine halbe Stunde damit, die Patienten im Wartezimmer zu beobachten, eine Berufskrankheit, das gute alte ›Ich rate, wer du bist‹-Spiel. Ihm gegenüber saß ein Halbstarker mit Halskrause. Den Sorgenfalten seiner Mutter nach zu urteilen war er bei einem waghalsigen Downhill-Manöver mit dem Mountainbike an der Ludwigshöhe nur knapp an einer Querschnittslähmung vorbeigeschrammt. Neben den beiden hockte eine Rentnerin, steif und verkrampft vorn auf der Stuhlkante, die Hände auf dem Schoß gefaltet, den Blick gottergeben zur Decke gewandt. Das Schicksal hatte ihr womöglich einen vernichtenden Doppelschlag erteilt – der Verlust des Partners, kurze Zeit später eine deprimierende Prognose für das eigene Leben. Es gab keine Gerechtigkeit. Zwei Stühle weiter eine Vertreterin der sozialen Unterschicht, eine unerträgliche Wolke kalten Rauchs absondernd, viel zu enge rosa Leggings, wie Wurstpellen über die gequollenen Beine gezogen, eine Frisur wie ein gerupfter Strohballen, ruiniert durch unzählige misslungene Blondierungsversuche. Die Proletin beugte sich mit ihrer Tochter über eine Wellnesszeitschrift, die Textzeilen beim mühsamen Lesen wie ein Erstklässler mit dem Finger nachfahrend, beide diskutierten die Ergebnisse einer Mineralwasseruntersuchung. Vielleicht hatte sie die Illusion, mit einigen Ernährungsumstellungen auch nur eine einzige der über 100   000 Zigaretten wiedergutmachen zu können, die sie sich seit ihren Jugendjahren in die Lungenflügel gesaugt hatte.
    Rünz wandte sich angewidert dem Zeitschriftenstapel zu. Er schnappte sich die zuoberst liegende ›Brigitte‹ und tauchte für einige Minuten ab in das Bermudaviereck aus Beauty, Wellness, Fun und Fashion, den kartesischen Bewusstseinskoordinaten postmoderner Frauen. Warum war in dieser Redaktion noch niemand auf die Idee gekommen, das Blatt in ›Bridget‹ umzubenennen? Irgendein US-amerikanischer Fitnessguru hatte das x-te Derivat eines Power-Wellfit-Relax-Balance-Yoga-Entschlackungs-Programmes auf dem Markt lanciert, und die führende deutsche Frauenzeitschrift hatte den Schmu sofort begeistert aufgegriffen. Die omnipräsenten Regenerations- und Entspannungsangebote schienen an Umfang inzwischen weit größer als alle Möglichkeiten, Stress und Anspannung aufzubauen. Den Teaser für die Story bildete eine doppelseitige Aufnahme unterernährter junger Frauen, die auf einer Frühlingswiese ihre Übungen machten. Sie standen wie Flamingos mit geschlossenen Augen auf einem Bein, das andere angewinkelt, die Fußsohle gegen die Innenseite des Standbeines gelegt, die Arme senkrecht über dem Kopf nach oben gestreckt und die Handflächen aneinandergelegt. Rünz fragte sich, in wie viel Tausenden von Anzeigen und Beiträgen von, für und über Wellness- und Vitalhotels, Energydrinks, Fitnessoasen und Spas er diese dämliche Pose schon gesehen hatte. Er hätte sie strafrechtlich gerne behandelt wie den Hitlergruß, sie erfüllte eigentlich alle Tatbestandsmerkmale der Volksverhetzung. Er wurde aufgerufen und in den Keller geschickt. Überall arbeiteten Handwerker, er dachte zuerst, er hätte sich verlaufen – der Bauleiter wies ihm den Weg zum Untersuchungsbereich.

     
    »Ich habe doch schon einen Liter von dem Zeug getrunken, warum jetzt auch noch einen Schuss in die Blutbahn ?«
    Die Röntgenassistentin perforierte erbarmungslos seine Armbeuge.
    »Das war Bariumsulfat, damit wird Ihr Verdauungstrakt auf den Aufnahmen sichtbar. Hier ist Jod drin, für Ihre restlichen Organe, Leber, Bauchspeicheldrüse und so weiter .«
    Die Radiologin im Nebenzimmer schien mit einer umfassenden Metastasierung seines Körpers zu rechnen.
    »Nicht erschrecken, das kann sich jetzt etwas heiß anfühlen. Vielleicht bekommen Sie einen metallischen Geschmack im Mund, das ist völlig normal .«
    Sie hatte nicht übertrieben. Er bekam eine Hitzewallung, als hätte er sich im Kernkraftwerk Biblis einen kräftigen Schluck aus dem Primärkreislauf genehmigt, sein Mund schmeckte nach zehn Euro Kleingeld in den Backentaschen. Die Assistentin verließ das Zimmer. Er war allein auf der Liege, in Hüfthöhe umgeben von einem zyklopischen Ring mit dem anachronistisch altertümelnd anmutenden Logo von General Electric. Die Liege setzte sich in Bewegung und

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